Der erste EU-Reaktor

An Finnlands Ostseeküste endete der 15-jährige AKW-Neubaustopp in Westeuropa – mit diversen Ködern

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Auf der Insel Olkiluoto sind die Betonarbeiten in vollem Gange. Neben den beiden in den Siebzigerjahren hier an der Ostseeküste erbauten Reaktoren entsteht Finnlands fünftes AKW – der erste westeuropäisch und skandinavische Reaktorneubau seit 1991. „Die Atomkraftlobby hat diesen Neubau wirklich gebraucht“, sagt Tuuli Kaskinen, Energiespezialistin beim finnischen Naturschutzverband: „Finnland war das ideale Land für die vermeintliche Trendwende: Seht, ein zukunftsorientiertes und demokratisches Land mit gutem ökologischen Ruf, das sich für den Ausbau der Kernkraft entschieden hat.“

Die Anti-AKW-Bewegung hatte geglaubt, sich endgültig zur Ruhe setzen zu können, nachdem sich trotz einer intensiven Atomlobbykampagne in den Neunzigerjahren eine Mehrheit in Bevölkerung und Politik nicht von ihrer Atomkraftablehnung abbringen ließ. Und 1993 der Antrag für einen AKW-Neubau im Parlament abgeschmettert wurde. Doch die Industrie gab nicht auf und konzentrierte sich nun auf ein neues Argument: die Klimafrage. Atomkraft wurde als einzige Möglichkeit verkauft, mit der Finnland seine Kioto-Verpflichtungen erfüllen könnte. Teile der Gewerkschaften und die stromintensive Holz- und Stahlindustrie machten nun gemeinsame Sache mit der Energiewirtschaft: Nur mit neuem Atomstrom könne Finnland seine wirtschaftliche Leistungskraft sichern. Oder sei es etwa verantwortlicher, Strom aus russischen Schrottreaktoren zu importieren, als selbst neu und sicher zu bauen?

Bei ihrer Einschätzung, dass das Projekt jedenfalls mangels Wirtschaftlichkeit scheitern würde, hatte die Antiatombewegung nicht einkalkuliert, dass die AKW-Industrie bereit war, sogar unter Selbstkostenpreis zu liefern, um endlich einen Neubauauftrag zu bekommen. Sie hatte zudem die Effektivität eines Finanzierungsmodells unterschätzt, bei dem das Investitionsrisiko im Austausch gegen Anteile an der künftigen Stromproduktion auf viele industrielle Schultern verteilt wurde. Mit einem „grünen“ Energiepaket überzeugte die sozialdemokratisch geführte Regierung letzte Zweifler im Parlament. Parallel zum Reaktorneubau sollte massiv in erneuerbare Energieproduktion und effektivere Energienutzung investiert werden. 2002 war die erforderliche Reichstagsmehrheit zusammen. Wofür nicht unerheblich war, dass die Atomlobby mehrere Monate vorher verkündet hatte, Finnland habe das Atommüllproblem gelöst – als erstes Land der Welt. Feinheiten, dass diese „Lösung“ bislang nur aus Plänen und Computeranimationen besteht, wurden dabei übersehen. „Jetzt wird der fünfte Reaktor gebaut, und aus den Absichtserklärungen zur erneuerbaren Energie ist nicht viel geworden“, konstatiert Tuuli Kaskinen: „Aber schon wird von einem sechsten Reaktor gesprochen.“

Unter einem guten Stern steht der Neubau bislang jedoch nicht. Wegen Mängeln stoppte die Atomaufsichtsbehörde zeitweise die Arbeiten. Doch spätestens 2010 soll Olkiluoto 3, der mit 1.600 Megawatt leistungsstärkste Prototyp des „European Pressurized Water Reactor“ ans Netz gehen.