Ausflug in die Todeszone

Nur wer eine Genehmigung hat, kommt näher als 30 Kilometer an den Tschernobyl-Reaktor heran. Immer mehr Touristen buchen inzwischen einen solchen Gruseltrip und treffen hier auf Überlebende

„Den Menschen zieht es doch immer dorthin, wo es gefährlich und verboten ist“, sagt der Fahrer

AUS DER SPERRZONE BARBARA OERTEL

Der Kleinbus stoppt vor dem Schlagbaum. „Kontrollpunkt Disjatki“, steht in großen Lettern auf einem Schild. Ein weiteres verkündet: „Stopp! Radioaktivität! Verbotene Zone!“ Maxim, Begleiter der Gruppe, reicht dem Wachposten die Pässe und ein offizielles Schreiben des ukrainischen Atomministerium. Der Uniformierte überprüft die Dokumente und wünscht „gute Weiterfahrt“.

Dreißig Kilometer von diesem Punkt entfernt ereignete sich am 20. April 1986 der schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Atomkraftnutzung. Um 1 Uhr, 23 Minuten und 40 Sekunden explodierte der vierte Reaktor in Tschernobyl. Das radioaktive Material, das dabei in die Luft geschleudert wurde, kontaminierte vor allem weite Teile der Ukraine und Weißrusslands. Das ukrainische Gesundheitsministerium schätzt, dass 2.646.106 Menschen in der Ukraine an den Folgen des Unfalls erkrankten, unter ihnen 643.030 Kinder.

Mühsam arbeitet sich der Kleinbus auf den verschneiten Wegen vorwärts und erreicht nach zehn Minuten das Dorf Scherepatsch. Zwischen Gestrüpp ducken sich kleine Holzhäuser mit eingeschlagenen Fenstern und schief sitzenden Türen. In einiger Entfernung modern lang gestreckte Stallruinen vor sich hin. Unmittelbar nach der Katastrophe waren aus der Region um Tschernobyl 151.000 Menschen evakuiert worden, in den folgenden Jahren mussten weitere 210.000 ihre Heimat verlassen. Wer in die 30-Kilometer-Zone, die so genannte Todeszone will, braucht bis heute eine Sondergenehmigung.

Doch die Todeszone ist alles andere als tot. Der Bus erreicht die Stadt Tschernobyl. In der Hauptstraße, der Uliza Sovetskaja, reihen sich Plattenbauten aneinander. Über der Straße verlaufen Gas-, Strom- und Telefonleitungen. „Die wurden oberirdisch verlegt, weil der Boden verseucht ist“, erklärt Maxim.

Vor der Katastrophe lebten in Tschernobyl 12.000 Menschen, heute sind es immer noch zwischen 2.000 und 4.000. Sie arbeiten bei der Feuerwehr, der Miliz, der Gebietsverwaltung, in Geschäften, Wäldern oder der einzigen Bar vor Ort. Maximal zwei Wochen pro Monat dürfen sie sich in der Zone aufhalten.

Auch Maxim pendelt in diesem Rhythmus zwischen Tschernobyl und der 150 Kilometer entfernten ukrainischen Hauptstadt Kiew. Hat er keine Angst? „Ich habe mich daran gewöhnt und tue eben meine Arbeit“, sagt er und hält seinen Dosimeter hoch. „Gucken Sie mal“, sagt er, „hier ist die Strahlung geringer als in Kiew.“

Im Eingang der Außenstelle des Kiewer Katastrophenschutzministeriums steht ein altertümlich anmutendes Strahlenmessgerät. Besucher stellen sich auf eine Platte und legen die linke und rechte Hand jeweils auf eine Eisenfläche. Dann leuchtet ein grünes Lämpchen auf: „Sauber“. Im ersten Stock erläutert ein Mitarbeiter an einer Wandkarte den Verseuchungsgrad der verschiedenen Zonen. Er und seine Kollegen können sich dieser Tage kaum vor Nachfragen retten. Sind es zur Zeit vor allem Journalisten und Experten, die die Zone unsicher machen, melden sich seit einigen Jahren auch immer mehr Touristen zu dem Gruseltrip an.

Durch das Treppenhaus zieht der Geruch von gebratenem Fleisch. Für Mitarbeiter und Besucher bietet die hauseigene Kantine ein „ökologisch reines“ Mittagessen an – Pilze und Beeren fehlen auf der Speisekarte.

„Nun denn, mit Gott“, sagt Pjotr, der Fahrer, und lässt den Motor an. Zwanzig Minuten später stoppt der Bus auf einer etwas erhöht gelegenen Brücke – nur wenige Meter vor der Stadt Pripjat. Zu dieser Brücke liefen die Menschen in der Nacht der Katastrophe vor zwanzig Jahren, um das Feuer im Kraftwerk besser beobachten zu können. Niemand konnte wissen, dass die radioaktive Strahlung auf der Brücke mit am höchsten war.

Hinter einem großen Stein mit der Aufschrift „Pripjat 1970“ wartet der nächste Schlagbaum. Wieder kontrolliert ein Wachposten die Ausweise. Dann biegt der Bus in die schnurgerade Hauptstraße, die Uliza Sportivnaja, ein. Aus den verwitterten Häuserblocks starren den Besuchern leere Fensterhöhlen entgegen. „Die Partei Lenins ist die Kraft des Volkes. Sie führt uns zum Sieg des Kommunismus“ steht an einer Hauswand. Ein paar Meter weiter zeigt Maxim auf ein flaches, lang gezogenes Gebäude. Der kurze Weg von der Straße führt durch kniehohen Schnee. Direkt vor dem Eingang liegen Scherben. „Mittelschule Nummer III“ ist noch zu entziffern. Im Inneren der fensterlosen Räume ist von den schimmeligen Wänden der Putz abgeblättert. In der Turnhalle sind Reste eines Barrens und von Holzbänken zu besichtigen. Maxims Dosimeter rast.

Kurz darauf stoppt Pjotr den Bus auf dem Hauptplatz. Auf dem vereisten Boden liegt eine leere Marlboro-Schachtel. Linkerhand erhebt sich das Hotel Polissija. Ein flaches Gebäude in der Mitte war einst das „Restaurant und Kulturpalast Energetik“, hier haben die Kraftwerksarbeiter und ihre Familien ihre Freizeit verbracht. Die einstige Straßenbeleuchtung – metallene Gestänge, von denen Hammer und Sichel baumeln – rostet vor sich hin.

Pripjat war bis zum Tschernobyl-GAU eine Vorzeigestadt in der ukrainischen sozialistischen Sowjetrepublik. Das Durchschnittsalter der 50.000 Bewohner lag bei 28 Jahren, die meisten von ihnen verdienten gutes Geld im Atomkraftwerk. Binnen drei Tagen nach dem Unfall wurden sie alle evakuiert. Die Menschen sollten nur das Wichtigste und Lebensmittel für drei Tage mitnehmen. Anschließend könnten sie wieder zurückkehren, lautete damals die offizielle Auskunft. Doch zurück kam keiner. Pripjat wurde zur Geisterstadt.

Pjotr lässt seinen Blick über den Platz schweifen. „Pripjat war eine wunderschöne Stadt“, beteuert er. „Der Bürgermeister liebte Rosen und ließ in jedem Jahr diesen Platz bepflanzen. Wir haben die Menschen hier beneidet.“ Alle Produkte habe es zu kaufen gegeben, und schon nach einem halben Jahr bekam man eine Wohnung. Pjotr seufzt. „Dort hat die Leitung des Atomkraftwerks gewohnt“, sagt er und weist mit dem Finger auf ein großes Gebäude. „Nach der Katastrophe haben sie jedes einzelne Haus abgewaschen. Doch es war alles umsonst.“ Zwischen den Stelen der Balkons beträgt die Radioaktivität auch heute noch 4.000 Mikroröntgen.

In Tschernobyl leben noch heute ein paar tausend Menschen – bis zu zwei Wochen pro Monat

Maxim klopft an die Tür einer Holzhütte. Als sie sich öffnet, stürzt ein Huhn heraus. Kurz darauf erscheint die Bewohnerin. Maria Schirlau sieht aus, als sei sie einem Roman von Alexander Puschkin entsprungen. Die kleine Frau ist fast so breit wie hoch und steckt in einem grob gestrickten Wollpullover, einem karierten Rock und Filzstiefeln, den Valenkis. Auf dem Kopf trägt sie ein Tuch. „Treten Sie ein“, sagt sie freundlich und entblößt ihre letzten beiden Zähne. Maria Schilau gehört zu den 350 so genannten Rücksiedlern, die trotz des offiziellen Verbots wieder in die 30-Kilomer-Zone zurückgekehrt sind. In ihrem Dorf Paryschew, fünfzehn Autominuten von Pripjat entfernt, leben außer ihr noch weitere 15 Alte.

In der spartanisch eingerichteten Behausung steht die Luft. „Wo hätte ich denn hingehen sollen“, fragt die 75-Jährige. Ein Jahr nach ihrer Evakuierung ist sie wieder in ihr Dorf zurückgekehrt, in dem vor dem Atom-GAU etwa 1.000 Menschen lebten. Zwar habe sie nach der Katastrophe fast alle ihre Zähne verloren. „Aber Angst habe ich keine. Anderswo werden die Menschen auch krank und sterben“, sagt sie. Zweimal in der Woche komme jetzt eine Krankenschwester vorbei, genauso oft wie der Bus, der sie und die anderen mit Lebensmitteln beliefere.

Dann geht sie zu einer kleinen Kommode, greift nach zwei gerahmten Fotografien und zeigt sie den Besuchern. In ihren Augen stehen Tränen. „Meine beiden Söhne. Sie waren 46 und 51 Jahre alt, als sie starben. Beide haben im Atomkraftwerk gearbeitet.“

Plötzlich huscht ein Lächeln über ihr Gesicht und ihre Augen leuchten. „Neulich war unser Präsident Wiktor Juschtschenko hier und hat Lebensmittel verteilt. Er hat uns allen in der Nähe von Kiew eine Wohnung versprochen.“ Glaubt sie daran? „Ich weiß es nicht, aber der Präsident muss doch die Menschen beruhigen und sie ein wenig froh machen“, sagt sie.

Als der Bus den Schlagbaum hinter sich gelassen hat, atmet Pjotr tief durch. Doch schon morgen wird er mit einer Gruppe wieder in die Todeszone fahren. „Das ist mein Job. Einen anderen habe ich nicht, und ich muss doch auch irgendwie überleben.“ Findet er es nicht komisch, dass sich Besucher scharenweise in die Zone fahren lassen? „Den Menschen zieht es doch immer dorthin, wo es gefährlich und eigentlich verboten ist“, sagt er und zuckt die Schultern. „Jeder lebt seine extremen Neigungen eben auf seine Weise aus.“