Krank und betrogen

Die Weißrussin Lidia Jurassewa hat durch Tschernobyl ihre Heimat verloren, heute lebt sie von einer Hungerrente in Minsk. Andere wohnen wieder in ihrem verstrahlten Dorf

AUS MINSK UND SAWITSCHIANNETTE JENSEN

Als die dunkle Wolke kam, haben sich die Frauen in Garbawitschi gefreut. Es war ein ungewöhnlich warmer und trockener April gewesen, die Erde brauchte Wasser. „Viele von uns sind nass geworden. Aber das hat niemanden beunruhigt“, sagt Lidia Jurassewa. Schließlich hat jeder auf dem Land ordentliche Gummistiefel. Keine von ihnen hatte schon mal etwas von Radioaktivität gehört. Und auch von dem 150 Kilometer entfernten Atomkraftwerk wussten sie nichts.

Wie an jedem anderen Tag trieben Lidia Jurassewa und ihre 27 Kolleginnen die Kühe der Kolchose in den Stall. Sie schlossen die Melkmaschine an die Euter und kippten Futter in die Tröge – bis einer die gelbe Schmiere auffiel, die sich überall auf Boden und Dächern absetzte. Was das sei, wollten sie von der Betriebsleitung wissen. „Die haben uns erzählt, dass die Kiefern in diesem Jahr besonders viel Pollen produzieren.“ Doch in der Nähe von Garbawitschi wuchsen gar keine Kiefern. Die Frauen wunderten sich ein bisschen, dachten dann aber nicht weiter darüber nach.

Am Abend fühlte sich Lidia Jurassewa schlapp. Ein paar Kolleginnen meldeten sich krank. Fünf Tage später kamen Soldaten und gruben an einigen Stellen die Erde um. Niemand nannte den Bewohnern einen Grund. Erst als das Fernsehen berichtete, dass es im Kraftwerk Tschernobyl einen Unfall gegeben habe und auch eine Landkarte gezeigt wurde, ahnten die Menschen in Garbawitschi: Der Regen vor ein paar Tagen war kein normaler Regen.

Wenig später traf ein Trupp Veterinäre im Dorf ein. „Sie haben alle unsere Kühe und Pferde getötet“, berichtet Lidia Jurassewa und schluckt. Ihr großer Garten, der sie und ihre Familie immer mit Äpfeln, roter Beete und Kohl versorgt hatte, wurde zu einem krank machenden Stück Erde erklärt. Niemand sollte mehr selbst angebautes Gemüse und Obst verzehren.

Noch sechs Jahre lebten die Menschen in Garbawitschi – abhängig von Lebensmittellieferungen. Dann kam der Befehl zur Räumung. „Wir durften nichts mitnehmen.“ Ihre Holzhäuser mit den Schnitzornamenten rund um die Fenster und die bunt gestrichenen Lattenzäune wurden angezündet. Bulldozer walzten über die verkohlten Reste.

Lidia Jurassewas geschwollene Finger trommeln auf einen abgewetzten Küchentisch, der im sechsten Stock eines Minsker Hochhauses steht. Ihre Gewohnheit, auch zu Hause ein Kopftuch zu tragen, hat sie beibehalten. „Sie hatten uns neue Möbel und einen Kühlschrank versprochen“, sagt sie. „Nichts, rein gar nichts, haben uns die Behörden gegeben“, stößt sie hervor. Kurz blitzt es in den Augen der heute 59-Jährigen, die sonst eher müde und resigniert wirkt.

Drei selbst gebaute Hocker, ein Stuhl und ein kleiner Tisch, ein laut brummender Kühlschrank, der Herd und ein klappriger Schrank – mehr Mobiliar gibt es bis heute in Lidia Jurassewas Küche nicht. Die übrigen Zimmer sind mit Betten voll gestellt. Neun Menschen teilen sich die Dreizimmerwohnung. Sogar vor dem Schrank auf dem Flur steht eine Schlafcouch.

Einige Familien aus Garbawitschi kamen nach Minsk, andere nach Bobruisk. Allein in Weißrussland haben 135.000 Menschen in Folge von Tschernobyl ihre Heimat verloren. Den einen oder anderen alten Bekannten trifft Lidia Jurassewa noch im Lebensmittelladen. Man grüßt sich. „Viel Kontakt haben wir nicht. Die meisten sind krank und kommen kaum noch aus dem Haus.“

Von den 27 Frauen, mit denen sie im Stall gearbeitet hat, sind bis auf eine alle gestorben. Auch Lidia Jurassewas Tochter ist tot. Nun wohnen deren beiden Kinder bei der Großmutter. Der 15-jährige Anatol hat seit der Geburt einen Herzfehler und einen krummen Rücken. Er ist schwach und darf sich beim Sport nicht anstrengen. Seine Schwester hat starke Magen- und Darmprobleme.

Lidia Jurassewas Herz und Nerven sind angegriffen, und sowohl Rücken als auch Beine machen ihr Probleme. Erst vor kurzem war sie wieder für zwei Wochen im Krankenhaus. Sie brauche Infusionen, hat der Arzt gesagt. „Aber bei uns bekommt man nur Medikamente, wenn man sie bezahlen kann.“ Weil ihre Waden und Füße geschwollen sind, läuft Lidia Jurassewa zu Hause barfuß herum. An manchen Tagen humpelt sie nur bis zur Küche und zur Toilette – vorbei an den Kalenderblättern mit den filigranen Ballerinas des Bolschoitheaters, die sie auf die speckige Flurtapete geklebt hat. Die meiste Zeit liegt sie in ihrem formlosen Kittelkleid im Bett, starrt auf einen Wandteppich mit Hirschen oder zum Fenster, hinter dem es nichts zu entdecken gibt als Hochhäuser und baumlose Wiesen. „Niemand hier braucht uns.“

200.000 weißrussische Rubel, 80 Euro Rente erhält Lidia Jurassewa, dazu kommen noch einmal 120.000 Rubel Waisenrente für Anatol und seine Schwester. Fast die Hälfte des Haushaltseinkommens geht für die Miete drauf. Viel mehr als Kartoffeln, Kohl und Brot kann Lidia Jurassewa nicht auf den Tisch bringen. Zwar arbeiten ihre Söhne gelegentlich auf dem Bau. Doch wie ihr Vater treiben sie sich jetzt viel herum, und ihr Verdienst verwandelt sich schnell in ein paar Wodkaflaschen. Einmal ist Lidia Jurassewa noch dort hingefahren, wo früher Garbawitschi lag, wo sie geboren wurde und bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahr gelebt hat. „Es gab da nichts mehr. Alles ist überwuchert.“

Ortswechsel. Sawitschi liegt 35 Kilometer von Tschernobyl entfernt, unmittelbar neben der Todeszone. Die Scheiben fast aller Häuser sind zerbrochen. Bäume und Büsche drängen sich ans Mauerwerk, als ob sie die Fremdkörper in ihrer Mitte wegdrücken wollten. 20 Jahre ist es her, dass die 1.500 Einwohner abtransportiert wurden. Doch anders als in Garbawitschi setzten die Behörden hier keine Bulldozer ein. So ragt heute zwischen Dutzenden Ruinen das alte Haus von Wiktor und Antonia Zerlujko hervor. Die Fensterrahmen haben sie akkurat mit blau-roten Mustern verziert, vorm Eingang blühen Studentenblumen, und in einem lauschigen Eckchen neben dem Apfelbaum steht eine überdachte Koje, die im Sommer als luftige Schlafgelegenheit dient. Im Auslauf hinterm Haus scharren ein paar Hühner, das Schwein beschnüffelt ein Häufchen Kartoffelschalen.

Nur fünf Monate waren Wiktor und Antonia fort, damals im Herbst 1986. „Mitten in der Ernte hieß es plötzlich: Alle weg hier“, erinnert sich der 65-Jährige und schiebt seine aus Zeitungspapier gebastelte Mütze aus der Stirn. Die beiden kamen in einem Ort nördlich von Gomel unter, wo Wiktor einen Job als Elektriker fand. Doch schon nach ein paar Tagen hatten sie Heimweh. Und als Wiktor wegen einer gebrochenen Hand nicht arbeiten konnte und der Chef sie aus der kostenlosen Werkswohnung schmeißen wollte, stand für die Eheleute fest: Wir gehen zurück. Bei 40 Grad minus schlugen sie sich nach Sawitschi durch. Zwar hatte die Miliz das Gebiet abgesperrt. Doch zum Glück arbeitete dort auch ein Freund – und es gab keinen Ärger.

Angst vor der Radioaktivität haben die beiden nicht. „Man sieht ja nichts, deshalb vergisst man es.“ Ob die Kartoffeln und rote Beete aus dem Garten belastet sind, haben sie nie überprüfen lassen. Und Pilze essen sie beide nicht gern.

Bald nach der Rückkehr fand Wiktor eine Anstellung als Maschinist in einer 25 Kilometer entfernten Kolchose; zwei Jahre lang zahlte die wegen der radioaktiven Belastung sogar doppelten Lohn. Antonia kümmerte sich um Schweine, Hühner und den Garten – und, nachdem die Tochter gestorben war, auch um die beiden halbwüchsigen Enkel.

Obwohl das Dorf offiziell geräumt war und die staatlichen Messkarten bis heute extrem hohe Cäsiumwerte aufweisen, kam nach einer Weile sogar wieder der Schulbus. Zum 10. Tschernobyl-Jahrestag stattete sogar Staatspräsident Alexander Lukaschenko dem Ort einen Besuch ab. „Es war ein angenehmes Gespräch“, erinnert sich Wiktor und bedauert, dass es das Staatsväterchen wohl kaum schaffen wird, zum 20. Jubiläum noch einmal in Sawitschi vorbeizuschauen. „Er hat ja so viele Sorgen und muss sich um vieles kümmern.“

Dass Wiktor starken Bluthochdruck hat und im letzten Monat schon wieder mit starken, undefinierbaren Bauchschmerzen vom Notarzt abgeholt werden musste – nein, das habe wohl kaum etwas mit Tschernobyl zu tun. „In unserem Alter gibt es keine gesunden Menschen“, ist er überzeugt. Und auch Antonia will den Unfall vor 20 Jahren nicht so wichtig nehmen. „Wir fühlen kaum, dass so viele Häuser leer stehen“, sagt die 60-Jährige, während sie vor dem Haus auf der Bank sitzt und die staubige Straße hinunterblickt. Sicher, früher gab es oft einen spontanen Plausch am Gartenzaun. Aber zum Glück besitzt ja heute fast jeder Telefon. So hält Antonia Kontakt zu ihrer alten Nachbarin. Die lebt in Kiew. In einem Hochhaus.