Strahlende Jobmaschine

Bis vor sechs Jahren produzierte Tschernobyl Strom. Noch heute stehen dort Tausende auf der Lohnliste

AUS DEM KRAFTWERK NICK REIMER

Mitnichten war der GAU vor 20 Jahren das Ende des Atomkraftwerks. „Derzeit arbeiten hier aber nur noch 3.860 Menschen“, sagt der zweite Generaldirektor der Anlage, Andre Wladislawisch Schatzmann. „Nur noch“ meint: Vor fünf Jahren waren es mehr als 10.000 Menschen, die vis-à-vis des Sarkophags ihr Geld verdienten. Trotzdem haben die Wachleute an den Sicherheitsschleusen mächtig zu tun: Nach den Terroranschlägen 2001 wurden auch hier die Sicherheitskontrollen verschärft.

Einst wollte die Sowjetunion hier den größten atomaren Kraftwerkspark der Welt bauen. Elf Blöcke waren geplant. Nach dem Unfall mussten die Bauarbeiten eingestellt werden. An den Reaktorgebäuden Nummer fünf und sechs ragen immer noch die Kräne in den Himmel. Die weitgehend fertigen Hallen dienen inzwischen als Zwischenlager für den Müll der atomaren Katastrophe.

„300 Milliarden Kilowattstunden haben wir produziert“, sagt Schatzmann. Bis zur Jahrtausendwende lieferte Tschernobyl Strom. Ende 2000 ging der letzte der drei noch betriebenen Atomblöcke vom Netz. „Dafür gab es keinen technischen Grund“, sagt Schatzmann. Man sei lediglich internationalen Verpflichtungen nachgekommen.

Kurz nach der Unabhängigkeit der Ukraine begann 1994 ein diplomatisches Tauziehen zwischen der Europäischen Union und der ehemaligen Sowjetrepublik. Die Westeuropäer wollen unbedingt, dass die drei noch laufenden Tschernobyl-Reaktoren abgeschaltet würden. Der damalige Präsident Leonid Kutschma witterte eine sprudelnde Geldquelle. Im „Memorandum of Understanding“ verpflichteten sich die führenden Wirtschaftsstaaten der G 7, „die Schließung der Reaktoren finanziell zu unterstützen“. Ende 1998 verabschiedete das ukrainische Parlament ein entsprechendes Gesetz.

Doch erst einmal fuhren jeden Tag weiterhin 10.000 Menschen ins Atomkraftwerk. Die Sowjetunion hatte nach dem GAU 40 Kilometer entfernt auf einer weniger verstrahlten grünen Wiese eine neue Stadt gebaut: Slawutitsch. Dessen 27.000 Einwohner lebten praktisch alle vom Betrieb der Blöcke eins bis drei. Zum AKW pendelten sie mit dem Zug, der an einer Dekontaminierungsschleuse endete. Die ist inzwischen allerdings außer Betrieb: Zu selten schlagen die Messgeräte Alarm. Im Kraftwerk selbst soll die Strahlung geringer sein als an vielen anderen Stellen in der Todeszone.

Alarm geschlagen hat dagegen vor drei Jahren die ukrainische Atomaufsicht: Sie stoppte die Arbeiten am Zwischenlager für festen Atommüll, das unmittelbar neben den stillgelegten Meilern entstehen soll. Generalauftragnehmer für den Bau war der französische Staatskonzern Framatom. Seither streiten sich die Ukrainer mit den Franzosen über die in den Sand gesetzten Euromilliarden. Es heißt, die französischen Ingenieure hätten fehlerhaft geplant. Es heißt allerdings auch: Die Ukrainer hätten die Fehler gern umgesetzt; je länger sich der Rückbau auf dem Areal hinzieht, desto länger haben sie hier schließlich eine Zukunft.

„Viele Slawutitscher haben sich bei anderen Atomkraftwerken beworben“, erzählt ihr Vizebürgermeister Wladimir Konstantinowitsch Zhygallo. Doch die Tschernobyler hätten wenig Chancen. Kollegen aus Russland seien mindestens ebensolche Fachleute, jedoch deutlich billiger. So bemüht sich Zhygallo, Ersatzarbeitsplätze in seine Stadt zu holen. Doch bislang hatte er nur wenig Erfolg: Außer dem Internationalen Tschernobyl-Forum und einer Hemdenfabrik wollte sich hier noch keine größere Firma ansiedeln.

Immerhin wird das Zwischenlager für flüssigen Atommüll pünktlich zum Jahrestag in Probebetrieb gehen. Finanziert von der EU, baute es die Siemens-Tochter Nukem. „Ein Problem weniger“, sagt der Generaldirektor. Es bleiben genügend andere. Etwa der neue Sarkophag, wie die Betonhülle über dem explodierten Block 4 genannt wird. „Der Ministerrat hat gerade die Pläne bestätigt, das internationale Ausschreibungsverfahren wird unmittelbar vorbereitet“, so Schatzmann – bevor er sich „leider verabschieden“ muss: Vor der Tür warten die Abteilungsleiter.

Der Besucher wird den Einduck nicht los, dass sie alle froh sind, jeden Tag zum Ort des GAU zurückkommen zu dürfen.