Ein tödlicher Dienst

Lange waren die Krankheiten der kasachischen Tschernobyl-Veteranen Staatsgeheimnisse

Von den rund 36.000 Tschernobyl-Veteranen aus Kasachstan leben laut Schätzungen noch 7.000

AUS ALMATY MARCUS BENSMANN

Abai Esenbajew hat Glück gehabt. Schon zum dritten Mal erhielt der 57-jährige Kasache einen der begehrten Überweisung. Damit kann er in eines der zwei Krankenhäuser in Kasachstan, das sich auf Strahlenkrankheit spezialisiert hat.

Früher schob Esenbajew Wachdienst um den zerborstenen Atommeiler in Tschernobyl. Wenige Jahre nachdem in sein kasachisches Heimatdorf zurückkehrt war, spielte sein Körper verrückt. Er bekam Gelenkschmerzen. Noch heute ist die Schilddrüse geschwollen, ihm ist ständig schwindelig und übel.

Ein Jahr nach dem GAU in dem ukrainischen Atommeiler erhielt der damalige Offizier der Sowjetarmee den Einziehungsbefehl. „Man hatte ja keine Ahnung, wo sie uns hinschickten“, erzählt der Mann mit der ledrigen Gesichtshaut, „nur über ausländische Radiosender hatten wir erfahren, dass da etwas Schlimmes passiert war.“ Über sechs Monate musste er mit seiner Einheit die Zugangswege bewachen, die Dörfer um den Reaktor evakuieren. „Es waren Geisterstädte.“ Seine in Tschernobyl geleistete Arbeit und seine zerstörte Gesundheit waren bis zum Zerfall der Sowjetunion ein Staatsgeheimnis.

„Esenbajew leidet an der Strahlenkrankheit als Folge des Einsatzes in Tschernobyl“, erklärt Professor Schangentchan Abilajulu. Der stellvertretende Direktor des staatlichen kardiologischen Instituts in Almaty war einer der Ersten, die sich nach der Unabhängigkeit Kasachstans für die Strahlenerkrankung der Tschernobyl-Veteranen in im Land interessierte. Er setzte sich dafür ein, dass in der staatlichen Klinik für Kriegsveteranen in Almaty 1994 eine Abteilung zur Behandlung von Strahlenkrankheiten eingerichtet wurde.

Wie Esenbajew wurden bis zu 36.000 Menschen aus der ehemaligen UdSSR in Zentralasien zu den Arbeiten an dem Reaktor und zu seiner Absicherung abkommandiert. „Man hat vor allem aus Kasachstan die Menschen herangezogen“, sagt Abilajulu. In Moskau habe es die Theorie gegeben, aufgrund der erhöhten natürlichen Radioaktivität in Kasachstan verfügten die dortigen Bewohner über eine gewisse Immunität. „Kompletter Unsinn“, sagt Abilajulu. „Bis heute sind von diesen Männern etwa nur noch 7.000 am Leben.“ Da über die Mortalität der kasachischen Tschernobyl-Veteranen Statistiken fehlen, beruft er sich auf Erfahrungswerte, wobei die genannte Ziffer etwa der Zahl der in Kasachstan noch registrierten Tschernobyl-Veteranen entspricht.

Diese Todeszahl wird von dem kasachischen Gesundheitsministerium jedoch nicht bestätigt – und für viel so hoch gehalten. Genaue Statistiken über das weitere Schicksal der Tschernobyl-Veteranen sind nicht geführt worden.

Direkt nach dem GAU wurden alle eingezogen, die irgendwie greifbar erschienen, darunter viele junge Rekruten. Später ging man dazu über, in das verstrahlte Gebiet nur Männer zu schicken, die bereits schon zwei Kinder gezeugt hatten. „Man wollte so verhindern, dass die genetische Struktur der Bevölkerung Schaden nehme“, erklärt Abilajulu. Esenbajew war schon vor seinem Einsatz verheiratet und hatte drei Kinder.

Bis heute verfüge man, so Abilajulu, mit dem Krankenhaus in der kasachischen Hauptstadt Astana über 160 Behandlungsplätze. Das sind viel zu wenig, rechnet man zu den 7.000 lebenden Tschernobyl-Veteranen noch die zwei Millionen Menschen, die wegen der Atomversuche auf dem einstigen Testgelände in Semipalatinsk auch Symptome der Strahlenkrankheit aufweisen.

„Die kasachischen Opfer der Tschernobyl-Katastrophe wurden vollkommen vergessen“, sagt Abilajulu. Bisher interessiere sich keine internationale Organisation für das Schicksal der Menschen. Die einzige Hilfe kam von der japanischen Regierung, die den Ausbau der Klinik finanziell ermöglichte.

Die Tschernobyl-Veteranen in Kasachstan fühlen sich von der kasachischen Regierung im Stich gelassen. Auf einer Pressekonferenz in Almaty beschweren sich die ordenbehangenen Veteranen, dass ihnen vom Staat die Vergünstigungen gestrichen seien und dass es keine ausreichende medizinische Versorgung gäbe. „Man wartet einfach, bis wir alle gestorben sind“, sagt einer.