Was halten Sie von Atomkraft?

Mit Angela Merkel wurde nicht nur die erste Frau zur Kanzlerin gewählt. Sondern auch die Renaissance der Atomkraft. Nachfolgend Argumente und Fakten

VON UNSEREN KORRESPONDENTEN

1. Atomkraft in Deutschland ist sicher

Es gab auch hierzulande diverse Störfälle und Bedienungsfehler. Eine kleine Auswahl: Im Oktober 2001 wurde bekannt, dass über Jahre hinweg in den AKW Philippsburg, Obrigheim und Neckarwestheim zu wenig Borwasser in den Notkühlsystemen gespeichert war. Das Notsystem war damit nicht voll funktionsfähig.

Im schwäbischen AKW Neckarwestheim fehlten im März 2004 an 16 Pumpen und Pumpenmotoren Schrauben und Befestigungsstifte. Als der AKW-Chef mit seinem obersten Vorsitzenden über das Sicherheitsgebaren im Konzerns sprach, wurde er entlassen.

Die hessischen AKW Biblis A und B verfügen über keine verbunkerte Notstandswarte. Bei einem ernsten Störfall in einem der beiden Reaktoren könne die gesamte Atomanlage von außen nicht mehr abgeschaltet werden, so Experten. Die erleuchteten Reaktorblöcke dienen in der Nacht US-Army-Hubschraubern als Orientierungspunkt, obgleich Biblis A wegen seiner nur 60 Zentimeter dicken Betonhülle nur den Absturz eines Sportflugzeugs überstünde. Risse in Schweißnähten bleiben überall unentdeckt, in Biblis in einem Fall sogar 27 Jahre.

Brunsbüttel an der Elbe überstand im Dezember 2001 eine Knallgasexplosion. Der Störfall ereignete sich nur wenige Meter entfernt vom Reaktordruckbehälter, der Reaktor wurde weiter am Netz gelassen. „Es war nur glücklichen Umständen zu verdanken, dass damals kein schwerer Unfall ausgelöst wurde“, so der Reaktorexperte Helmut Hirsch.

Nach der deutschen Risikostudie der nicht atomkritischen Gesellschaft für Reaktorsicherheit von 1989 liegt die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall für die 17 deutschen Reaktoren bei einem Berieb von 30 Jahren bei zwei Prozent – ohne Berücksichtigung von Sabotage oder Bedienungsfehlern.

2. Atomkraft ist sauber

Auch im Normalbetrieb stößt ein Reaktor Radioaktivität aus. Noch mehr der restliche Brennstoffkreislauf – vor allem die Uranförderung und die Wiederaufarbeitung. Jedes Jahr fällt in deutschen AKW mehr Atommüll an, als in Tschernobyl freigesetzt wurde. Uran und Plutomium sind auch chemisch hoch giftig.

3. Atomkraft hilft dem Klima

Tatsächlich erzeugen Atomkraftwerke nur wenig Kohlendioxid. Um den Ausstoß des Klimakillers radikal zu stutzen, empfehlen Energiemanager und Politiker neue Atomkraftwerke. Eine Milchmädchenrechnung: Fundamentale CO2-Reduktionen lassen sich eher gegen als mit der Atomkraft umsetzen. Weil erstens jedes AKW mehrere Milliarden kostet. 2030 werde deshalb der Anteil des Atomstromes weltweit bei 9 Prozent liegen, so die Internationale Atomenergiebehörde, der regenerativ gewonnene aber bei etwa 30 Prozent. Zweitens wird die Menschheit das Klimaproblem nur durch den Zwang einer Neuorientierung in Griff bekommen: Weg von Großtechnologien, hin zu dezentralen Strukturen und vor allem zum Energiesparen. Wollte man drittens Mitte des Jahrhunderts 20 Prozent Kohlendioxid durch Atomkraft einsparen, müssten ab 2010 nach allen fundierten Berechnungen 200 Meiler binnen 10 Jahren ans Netz gehen – alle 18 Tage einer.

4. Atommüll lässt sich sicher lagern

Behaupten zumindest AKW-Betreiber und Politiker. Die Realität sieht anders aus. In Deutschland gibt es schon zwei errichtete Atommüllendlager: Ins ehemalige Salzbergwerk Asse II bei Wolfenbüttel wurden bis 1978 rund 125.000 Fass schwach- und 1.300 Fass mittelaktive Abfälle eingelagert. Heute sickern in das einstige Versuchsendlager täglich gut 10 Kubikmeter Flüssigkeit ein. Damit der Schacht nicht einstürzt, werden seine Hohlräume gegenwärtig mit Abraumsalz gefüllt.

Das zweite bestehende Endlager ist die ehemalige Kaligrube Morsleben in Sachsen-Anhalt. 37.000 Kubikmeter Atommüll und 6.600 Strahlenquellen lagerten zuerst die DDR und dann die neue Bundesrepublik ein. Seit 2002 wird der einsturzbedrohte Zentralteil im Zuge einer „Maßnahme der Gefahrenabwehr“ mit Versatzmaterial gefüllt.

Bei künftigen Endlagern ist von dauerhaftem sicherem Einschluss des Atommülls ohnehin nicht mehr die Rede. Die ehemalige Eisenerzgrube Schacht Konrad würde sich nach dem Einlagerungsbetrieb langsam mit Wasser füllen, und das strahlende Inventar würde sich später langsam im Untergrund ausbreiten. Die Konrad-Genehmigung vertraut allein auf Modellrechnungen, die auf vielen durchaus zweifelhaften Annahmen beruhen und nach denen am Ende an der Erdoberfläche die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung nicht überschritten werden. Auch für den Salzstock Gorleben ist längst ausgemacht, dass an die Stelle undurchlässiger geologischer Barrieren Ausbreitungsrechnungen treten müssten.

5. Atomstrom ist billig

Das stimmt – wenn das AKW bereits gebaut ist und nur die Betriebskosten gerechnet werden. Doch sowohl Bau als auch Abriss kosten jeweils mehrere Milliarden etwa für einen 1.000-Megawatt-Block (genaue Schätzungen sind schwierig, siehe zum Beispiel das Buch „Mythos Atomkraft“). In Zeiten von 15 Prozent Kapitalrendite bedeutet dies das Aus für AKW. Die Schäden im Fall eines Super-GAU mit großen Mengen frei werdender Radioaktivität liegen sowieso jenseits allen Vermögens. Außerdem bedingen die großen Blöcke hohe Reservekapazitäten für den Fall eines Ausfalls, nebst leistungsfähigen Hochspannungsnetzen.

6. Atomkraftwerke lassen sich gegen Terroristen schützen

Das stimmt. Die oberste Sicherheitsbehörde in Deutschland, das Bundesumweltministerium, hat nach den Anschlägen auf das World Trade Center zumindest selbiges behauptet. Grundlage ist eine unter Verschluss gehaltene Studie, die Luftballons, Nebelwerfer und Zäune gegen Kamikazeflieger vorschlägt (mehr dazu: Seite 24).

7. Die Katastrophe von Tschernobyl ist ein singuläres Ereignis

Gern, häufig, überzeugt wird behauptet, dass sich der Super-GAU von Tschernobyl nicht wiederholen kann. Begründet wird dies mit der „russischen Technologie“, die damals quasi prädestiniert für Havarien gewesen sei. Tatsache ist, dass der Block 4 ein so genannter RBMK-Reaktor war, mit gravierenden bauartbedingten Mängeln. Wo immer Reaktoren dieses Typs liefen, wurden sie nach dem Unfall umfangreich nachgerüstet.

Tatsache ist aber auch, dass nicht der Reaktor, sondern Bedienfehler der Mannschaft zum Unfall führten. Der Faktor Mensch: Es gibt bislang kein technisches oder technologisches System, dass fehlerquellenfrei arbeiten kann – zumindest die Systeme, in denen handelnde Menschen integriert sind. Es gibt weltweit viele Beispiel für solche Unfälle in Atomanlagen, in Europa zuletzt Paks: Am 10. April 2003 schrammte das ungarische AKW nur knapp an einer Katastrophe vorbei. Schlampige Überwachung, stressbedingte Fehleinschätzung und ein naives Vertrauen in eine hochsensible Technik führten zur Überhitzung einer Anlage und zur Evakuierung des dortigen Blocks 2. Die Radioaktivität wurde ins Freie abgelassen.Die Wiener Umweltstaatsanwaltschaft konstatierte später: „Die Mehrzahl der 30 Brennelemente im Abklingbecken wurden durch mangelnde Kühlung überhitzt und stark beschädigt beziehungsweise angeschmolzen.“ Reaktorphysiker aus dem In- und Ausland erkannten später entsetzt, dass eine atomare Verpuffung – also eine unkontrollierbare Kettenreaktion – im Bereich des Möglichen lag. Zwar nahm fast niemand den Störfall zur Kenntnis. Die mit der Untersuchung betraute Wiener Staatsanwaltschaft urteilte aber: „Dieser Störfall zeigt neuerlich, dass die Gewinnung von Kernenergie eine Risikotechnologie ist, bei der es immer zu unvorhergesehenen Ereignissen kommen kann“.

JÜRGEN VOGES
KLAUS-PETER KLINGELSCHMIDT
KLAUS WITTMANN
NICK REIMER
REINER METZGER