Der Sarg ist undicht

Wie viel Kernbrennstoff sich noch in dem Havariereaktor befindet, ist unklar. Klar ist, dass Wasser hineinläuft

Seit November wird der Sarkophag ausgebessert. Die Leute dürfen immer nur für zwei Minuten arbeiten

AUS TSCHERNOBYL NICK REIMER

Der Blick von Julias Arbeitsplatz ist wirklich exklusiv: 50 Meter Luftlinie bis zum Havarieblock 4. „Die beiden Dachträger sind nicht sehr stabil: Sie liegen einfach nur oben drauf“, sagt Julia Konstantinowa Marusitsch, Führerin des „Dokumentationszentrums Sarkophag“. Man müsse das verstehen: 90.000 Leute haben unter extremsten Belastungen in nur 206 Tagen die Außenhaut gebaut. Da lief manches nicht ganz so wie gewünscht.

50 Meter Luftlinie bis zu dem havarierten Reaktor. Wie gefährlich ist das Ding? Kann er zusammenbrechen? Und vor allem: Wie viel Kernbrennstoff schlummert noch unter der Haut? Fast nichts, sagt die eine Wissenschaftsmeinung – fast alles, die andere. Dabei ist dieser Punkt zentral: Von der Menge des noch verbliebenen Kernbrennstoffs hängt ab, ob, wie und wie schnell eine zweite Haut um den Reaktor gebaut werden muss.

Ursprünglich war der Sarkophag für 30 Jahre konzipiert. „Er hat den äußeren Einwirkungen der letzten 20 Jahre standgehalten“, urteilt lapidar die deutsche Strahlenschutzkommission. Äußere Einwirkungen waren beispielsweise Erdbeben. Im Mai 1990 wurden etwa 6,8 und 6,3 auf der Richterskala gemessen, das Epizentrum lag am Karpatenrand.

Der Sarkophag, ein Bauwerk in der Form eines R, so hoch wie ein 20-stöckiges Haus. In Inneren verbergen sich in absoluter Dunkelheit etwa 1.000 Räume, viele davon vollkommen zerstört. „Beim Bau musste in Kauf genommen werden, dass die alten Stützenkonstruktionen nicht zuverlässig waren“, sagt Alexander Borowoi vom russischen Kurtschatow-Institut. Dieses war früher das Zentralhirn der sowjetischen Atomindustrie, Borowoi ist auch der IAEA-Experte für Strahlungshavarien. „Die Explosion und der Brand hat das Material ja stark angegriffen. Ihre wirkliche Festigkeit konnte wegen der gewaltigen Strahlungsfelder aber nicht überprüft werden“, so der Experte. Informationen über den Zustand wurden ausschließlich von Fotos gewonnen. Die wurden vom Hubschrauber aus gemacht.

„Acht Risikogebiete sind in der Sarkophaghaut lokalisiert“, erklärt Julia Konstantinowa. Mikrorisse etwa, Materialverschiebungen, Wasser. Die Hülle ist nicht wirklich hermetisch, jährlich gelangen bis zu 2.000 Kubikmeter Regen- und Tauwasser durch die Ritzen in den Reaktor. Seit November wird an den ersten Stellen gearbeitet. „Es geht aber nur langsam voran: Die Leute dürfen immer nur für zwei Minuten arbeiten.“ Die Strahlung ist einfach zu hoch: Unter der Hülle gibt es Stellen, wo Strahlenleistungen von 20 Sievers pro Stunde gemessen werden. Schon 2 Sievers sind tödlich. Zum Vergleich: In Berlin werden beispielsweise 1 Microsievert registriert – 20 Millionen Mal weniger.

Zwar bescheinigen auch westliche Fachleute den Sarkophagerbauern ingenieurtechnische Standards. Allerdings mussten die Bauteile wegen der extremen Strahlung vielfach per Roboter montiert werden – was vor 20 Jahren noch eine enorme Herausforderung an die Präzision bedeutete. Wesentliche Bauteile konnten so weder verschraubt noch verschweißt werden, sie sind einfach nur aufeinander gestapelt. Wie lange kann das noch halten? Semen Michailowitsch Stein, Sprecher des Kraftwerks jedenfalls sagt: „Als Betreiber können wir die Stabilität nicht mehr garantieren“.

Es war die deutsche Umweltministerin Angela Merkel, die mit ihrer französischen Kollegin auf Bitte der Ukraine 1996 die so genannte deutsch-französische Initiative startete. Zwar war in den ersten zehn Jahren nach dem GAU massenhaft in und um den havarierten Reaktor geforscht worden. Um Daten und Ergebnisse in Zusammenhang zu setzen, fehlte es aber an Geld.

Auftrag eins der deutsch-französischen Initiative lautete deshalb: „Sicherheitszustand des Sarkophags“. Die gestern von der deutschen Strahlenschutzkommission dokumentierten Untersuchungen ergaben, dass noch 180 Tonnen Kernbrennstoff im Reaktor sind. Sehr detailliert aufgeschlüsselt, haben die Forscher brennstoffhaltigen Staub, Kernbrennstofflava oder in Wasser gelöste Uransalze aufgeschlüsselt: 6 Tonnen in Raum 304/3, etwa 14,8 Tonnen im südlichen Abklingbecken, 0,4 Tonnen in Raum 217/2.

Alles Quatsch, behauptet dagegen die Deutsche Gesellschaft für Strahlenschutz: Nicht mal mehr 10 Tonnen seien in dem Reaktor. Die übertriebene Darstellung des kerntechnischen Inventars sei nur ein „Plan zum Gelddrucken“. Sebastian Pflugbeil, Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz: „Würde der Sarkophag einstürzen, wird zwar eine radioaktive Staubwolke frei. Die aber bliebe auf das Gebiet des Kraftwerkes beschränkt. Weder die Ukraine noch ein anderes europäisches Land würden davon etwas mitbekommen.“

Ukrainische Experten hatten mit internationalen Kollegen 1996 den „Shelter Implementations Plan“ erarbeitet: eine bogenförmige Halle – 100 Meter hoch, Spannweite etwa 250 Meter – soll erstens den alten Sarkophag einschließen und zweitens in cirka 30 Jahren die Bergunng des radioaktiven Inventars ermöglichen. Dabei stützen sich die Experten auch auf sowjetische Daten: 190 Tonnen waren zum Zeitpunkt des Unglücks im Reaktor. Die bis zum 6. Mai 1986 frei gesetzten Kernbrennstoffanteile betragen 3,5 Prozent. Es hätte also alles noch viel schlimmer kommen können.

Schlimmer geht nicht, sagt dagegen Konstantin Tschertscherow, einer der führenden russischen Atomphysiker: „95 Prozent des Kernbrennstoffes sind entwichen.“ Tschertscherow zählt zu den intimsten Kennern des Sarkophags: an die 1.000-mal ist er in seinem Inneren gewesen, dreimal war er bis in den Reaktorschacht vorgedrungen. Tschertscherows These: Der ganze Kern des Reaktors – ein riesiger Graphitblock, durchzogen von Röhren mit Brennelemente und Steuerstäben – ist beim GAU wie eine Rakete aus dem Reaktorschacht gezischt. Dabei hat der Kern so viel Kraft, dass er den 2.500 Tonnen schweren Reaktordeckel abhebt. 40 bis 50 Meter hoch schafft es der Reaktorkern, verdampfte dabei in der unvorstellbaren Hitze – und gelangte so in die Umwelt.