Die neue Blumfeld

Diese Woche erscheint „Verbotene Früchte“, von manchen ersehnt, von anderen gefürchtet. Fest steht: An Blumfeld scheiden sich die Geister
VON TOBIAS RAPP

pro

Über Blumfeld schreiben, heißt immer auch sich selbst befragen. Ob man will oder nicht, und auch ob die Band das will oder nicht. Das hat mit dem speziellen Popmodell zu tun, das in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern von einigen Hamburger Bands und rund um das Musikmagazin Spex entwickelt wurde, und dessen Attraktivität für jeden, der sich gerne zum Thema Pop äußert, darauf beruht, genau dazu herzlich eingeladen zu werden. Diskurspop wurde das damals genannt, auch deshalb.

Es war eine Musik, die genauso laut Ich! rief, wie sie durch eine hohe Durchlässigkeit für die verschiedensten Diskurse aus Politik, Theorie und Literatur die Bedingungen unterstrich, unter denen dieses Ich überhaupt erst produziert wurde. Und zu diesen Bedingungen gehörte immer auch die Kritik – vom Kneipengespräch über die Pausendiskussion zwischen zwei Seminaren bis zur Rezension. So hat jeder, der sich in den Neunzigern in Deutschland für Pop interessierte, seine Geschichte mit Blumfeld. Anhand dieser Band ließ sich Welt erzählen. Das macht sie so attraktiv und wichtig, bis heute.

Nun hat sich die Welt seit den ersten beiden Blumfeld-Alben weiter gedreht. Das Milieu, aus dem heraus und in das hinein ihr Sänger Jochen Distelmeyer sprach, gibt es so nicht mehr. Als Einzelne sind sie natürlich noch da, die radikalen Linken und die Theweleit-Leser, die Indierocker, die Antifas und die Popintellektuellen. Doch die große Frage, die dieses Milieu als Blumfeld-Hörer zusammenhielt, wie sich nämlich die Kunst der endlosen ästhetischen Verfeinerung der intellektuellen Linken der späten Kohljahre mit dem Kampf gegen die nationalistische Formierung der Republik nach der Wiedervereinigung zusammendenken lässt, hat keine identitätsstiftende Kraft mehr. Zu viel ist seitdem passiert: zwei Regierungswechsel im Großen, Familiengründungen und Erfolge wie Scheitern individueller Lebenspläne im Kleinen.

Blumfeld haben diese Dinge auf ihren Alben seit „Old Nobody“ von 1999 immer mitreflektiert. Schaut man sich die veröffentlichte Meinung zu Blumfelds neuem Album „Verbotene Früchte“ an oder hört sich unter seinen Freundinnen und Freunden um, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass es vor allem eine Sehnsucht nach der scheinbaren Sicherheit und Übersichtlichkeit der frühen Tage ist, die die Freude an dieser wunderbaren Platte unterminiert.

Denn tatsächlich: Diese Platte handelt vor allem von der Natur. Vom Schneetreiben vor dem Fenster („Schnee“), vom Apfelverkäufer und den vielen Sorten, die er auf seinem Marktstand feilbietet („Apfelmann“), von den Tieren, die natürliche Feinde haben, obwohl sie eigentlich einen Freund bräuchten („Tiere um uns“). Da fällt es leicht, das Fehlen einer politischen Aussage zu beklagen (oder schlimmer noch, das ganze Unterfangen sofort für reaktionär zu erklären: wg. Naturalisierung sozialer Verhältnisse und Rückzug ins Private).

Das ist alles Unfug. Zum einen grundsätzlich. Denn Blumfeld haben aus ihren politischen Positionen nie ein Hehl gemacht, alle Versuche, sie zum Protagonisten der neuen deutschen Coolness zu erklären, so erfolgreich wie elegant abgewehrt. Und die Idee, Politik müsse sich eins zu eins auf einer Aussageebene in Songs wiederfinden, fällt ohnehin hinter alle Errungenschaften zurück, die am Anfang einer jeden Idee von Diskurspop standen.

Zum anderen aber auch speziell. Denn gerade in der Überforderung, die sich in dem unleugbaren Gefühl ausdrückt, Jochen Distelmeyer habe den Verstand verloren (und das sagt tatsächlich jeder, der die Platte das erste Mal hört), liegt der besondere Charme von „Verbotene Früchte“. Für unübersichtliche Verhältnisse ist die Ali-Mitgutsch-artige Wuselbilderschönheit von einem Song wie „Tiere um uns“ mit Sicherheit der vollkommenere Ausdruck als einfache Freund-Feind-Beschreibungen.

Über Blumfeld schreiben heißt sich selbst zu befragen. Es gab Zeiten, da nervte diese Band genau aus diesem Grund. Doch genau in der Leichtigkeit, mit der „Verbotene Früchte“ es einem schwer macht, liegt die Großartigkeit dieser Platte.

contra
von ARNO FRANK

Diese Gruppe ist eine Zumutung. Sie ist es nicht erst in diesen Tagen geworden, da das neue Album umfassend befeuilletoniert wird, sondern schon seit ihren Anfängen zu Beginn der Neunzigerjahre. Wenn ihr Debüt, das Benn’sche Wortgeschrammel von der „Ich-Maschine“, 1992 noch als subversives Pop-Äquivalent zur artig umhäkelten Klorolle verstanden werden konnte, dann ist „Verbotene Früchte“ ein musikalischer Wackeldackel, den sich das treue Publikum auf die Heckablage gleich hinter dem Kindersitz stellen kann – und sei es auch nur, um Spöttern, die das spießig finden, entgegenzuhalten: „Schau doch, wie kritisch er in die Landschaft blinzelt! Wie er mal nickt, mal den Kopf schüttelt, weil doch auch die Welt, die er sieht, so wahnsinnig ambivalent ist!“.

Nun sind Zumutungen an sich nichts Schlechtes. Alles Wahre, Schöne und Gute bedarf mindestens des Künstlers, der sich eine solche Schöpfung zumutet. Warum es bei Blumfeld – wie der ganzen „Hamburger Schule“ – so nachhaltig aus dem Ruder gelaufen ist, hat einen einfachen Grund: die Universität. Denn dort, in den Proseminaren für Soziologie oder Germanistik, haben Blumfeld damals ihre Hörer gefunden. Seitdem dürfen Jochen Distelmeyers höchst erratische, expressive und interpretationsbedürftige Texte nicht einfach nur erratisch, expressiv und höchst interpretationsbedürftig bleiben, sondern werden von Experten in schönster Spex-Manier behandelt, als ginge es um die wissenschaftlich korrekte Exegese eines unbekannten Essays von Gilles Deleuze.

Wenn ein Student der Rechtswissenschaften sein Studium ernst nimmt, dann sieht er bald überall nur noch Vertragsverhältnisse und Paragrafen. Bei einem angehenden Kultur- oder Politikwissenschafter hat dieser akademische Tunnelblick zur Folge, dass er alles als Zeichen interpretieren und dessen Bedeutung enthüllen will. Folge dieser „déformation professionelle“, von der vor allem Sprösslinge mit bildungsbürgerlichem Hintergrund befallen sind, war unter anderem das Phänomen des so genannten Diskurspop. Weil es in einem gewissen Milieu einfach nicht mehr genügte, zu einer Musik tanzen zu wollen, wo man doch eigentlich „die Verhältnisse“ zum Tanzen bringen sollte, blabla. Haste überhaupt ’nen Überbau, ey?

Wie heiß diese diskursive Wir-Maschine (deren Mitglieder heute übrigens längst angekommen sind in den Redaktionen, an den Fließbändern der Kulturindustrie oder auf dem Lehrstuhl) damals schon lief, zeigte sich mir in einer Rezension über Gebrauchsmusik in der Spex, die mit dem herrlichen Satz begann: „Bei Fatboy Slim muss ich immer an Kippenberger denken …“, von wegen ironischer Dekonstruktivismus und so, wir verstehen uns – und eben auch, um sich abzugrenzen von denen, die zu den Beats von Martin Kippenberger … Pardon, Fatboy Slim einfach nur tanzen wollten. Auch den glasierten Porzellankitsch eines Jeff Koons kann man einfach nur drollig finden. Besser fühlt es sich womöglich an, die Exponate mit geneigtem Kopf und wissend maliziösem Lächeln zu betrachten, wie übrigens auch den naiv-frischen Newcomern à la Mia oder Wir Sind Helden irgendwie das „universalistische Popverständnis“ abgeht. The more you know …

Nun sind popintellektuelle Bescheidwisser auch im Alter nicht um schlaue Interpretationen ihrer ebenfalls gealterten Lieblingsband verlegen. Ob es nun die schrillen Dissonanzen der frühen Blumfeld sind oder die milden Harmonien der späten – irgendein klug klingender Rückschluss auf meine persönliche und die gesellschaftliche Befindlichkeit insgesamt wird sich da schon raushören lassen. Und wenn Distelmeyer auf der neuen Platte über den Schnee in seinem Vorgarten und den „Apfelmann“ meditiert, dann steckt dahinter gewiss eine luzide Kritik an … was auch immer. Komisch nur, dass ebenjene Maßstäbe nie an eine Münchner Freiheit („Ohne Dich“) oder einen Kinderliedermacher wie Rolf Zuckowski angelegt würden. Wie politisch die erst sind!

„Verbotene Früchte“ wachsen übrigens am Baum der Erkenntnis. Leider muss ich bei der Musik immer an einen überzuckerten Apfelkompott aus dem düsteren Keller eines depressiven Wackeldackels denken.