Alter Zombie Migration

Die Debatte um die demografische Entwicklung Deutschlands ist eng mit der um die Zuwanderung verknüpft: Konservative Intellektuelle wie Botho Strauß oder Frank Schirrmacher versuchen, einen ethnischen Kern der Gesellschaft zu propagieren

Die Ära Kohl steht von heute aus betrachtet vor allem für einen während der deutschen Einheit geschürten Nationalismus

VON ANDREAS FANIZADEH

Die Ängste vor einer so genannten Überfremdung sind historisch betrachtet absurd. Dennoch bleiben sie bis heute virulent. Dabei werden soziale oder kulturelle Unterschiede zwischen Alteingesessenen und neu Hinzugekommenen gerne überbewertet, obwohl sie dauerhaft keine große – zumindest kaum eine negative – Rolle gespielt haben. Keine moderne Nation war sozial, kulturell oder ethnisch durch die Jahrzehnte homogen, auch wenn dieser Gedanke als Konstante und Phantasma die konservative Politik begleitet (und man möchte fast schon sagen: regiert).

In Europa wird gerade die tausendste Schlacht gegen Mobilität und Veränderung geschlagen. In deren Zentrum steht die ideologische Annahme eines „Clash of Civilizations“, einer global vorgestellten Auseinandersetzung zwischen christlichem Abend- und islamischem Morgenland. Die Debatte hat besonders unangenehme Folgen für all diejenigen, die durch Namen oder nicht restlos assimilierte Gebräuche in den jeweiligen Gesellschaften als Minderheit erkennbar sind. Der globale Kapitalismus– „die Ordnung des Empire“ (Toni Negri/Michael Hardt) – evoziert seine Wiedergänger, die Renaissance von Scholle und Scholastik ist beeindruckend.

In Deutschland propagieren Schriftsteller wie Botho Strauß oder Journalisten wie Frank Schirrmacher die Bedeutung eines ethnisch-erblichen Kerns der bürgerlichen Gesellschaft. Die christliche Familie, Fundament des Staates, sehen sie in höchster Gefahr und die „deutschen Deutschen“ als im Aussterben begriffen. Strauß spricht von einer islamischen Parallelgesellschaft, die er als „Vorbereitungsgesellschaft“ zur Zerstörung der abendländischen Zivilisation begreift. Man habe geschlafen – „es war eine schwache Zeit!“ –, doch nun sei man erwacht.

Schirrmacher, Bestsellerautor und FAZ-Mitherausgeber, formuliert dies noch aggressiver als Strauß. „Was gegenwärtig bei uns abläuft“, sagt er, „entspricht nicht nur der Veränderung in zwei Weltkriegen. Es entspricht vielmehr dem Schrumpfprozess im Dreißigjährigen Krieg, aber ohne Kriegshandlungen.“ Was Schirrmacher demografisch bedeutsamer als Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg erscheint, ist die behauptete Islamisierung Europas durch den Zuzug kinderreicher muslimischer Familien. „Diese Gefahr ist real“, bekräftigte er in verschiedenen Interviews. Denn: „Die Islamisierung ist nicht nur eine reale Gefahr. Sie ist sogar Programm. Es gibt in arabischen Staaten starke Kräfte, die eine Reconquista im Sinn haben und auch stark demografisch argumentieren. Noch haben wir viele Muslime, die zur Integration bereit sind. Aber mit jedem Jahr, das verstreicht, wird es schwieriger, weil die muslimischen Gemeinschaften rasant wachsen, während wir gleichzeitig immer nur älter, schwächer, ängstlicher, unsicherer werden, unfähig, zu sagen, wer wir sind.“

Da wird er wieder aufgerufen, der alte Zombie Migration. In Deutschland glaubte man dieses Gespenst dank europäischer Integrationspolitik und siebenjähriger Regierungszeit von Rot-Grün vertrieben zu haben. Doch mit Amtsantritt der CDU-geführten großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel sitzt es wieder prominent am Kabinettstisch. Die Innenpolitik versucht die demografischen Ströme im Sinne des Schirrmacher’schen „Ethnizismus der Mitte“ zu lenken. Die rot-grüne Reform des Staatsbürgerrechts wird zerlöchert, Einwanderung nach Kräften erschwert. Und die Diskussion geht von neuem los, ob wer hier lebt, auch dazugehört.

Die Beschwörung eines ethnizistisch-kulturellen Kerns der Nation steht gegen die meisten europäischen Verfassungen und das in den Neunzigern propagierte „Recht auf Differenz“. Bereits vor dem Streit um die Mohammed-Karikaturen in der Zeitung Jyllands Posten kämpfte die dänische Rechtsregierung mit Vehemenz gegen so harmlos-libertäre „Parallelgesellschaften“ wie die „Freie Republik Christiania“. Kaum zu glauben, dass dieses von der dänischen Mehrheitskultur abweichende Miniviertel in Kopenhagen – ein romantisches Relikt aus den utopischen Tagen der Autonomie – vor kurzem noch für mehr Schlagzeilen sorgte als das große Feindbild Islam.

Die vormalige rot-grüne Regierung in Deutschland hatte einst „den Aufstand der Anständigen“ ausgerufen. Sie wollte damit gegen Rassismus und „national-befreite Zonen“ im ländlichen Osten mobilisieren. Dort haben sich tatsächlich demokratiefeindliche Parallelgesellschaften festgesetzt, die das Zeug dazu haben, regional mehrheitlich und dominant zu werden. Doch nicht davon, oder von Standortpolitik, hoher Arbeitslosigkeit oder der Einwanderung von Millionen von Ostdeutschen in das westdeutsche Rentensystem fühlen sich Schirrmacher oder Strauß bedroht. Nein, ihnen geht es um Phänomene wie „Ehrenmorde“ und Zwangsverheiratungen. Diese müssen bekämpft und geahndet werden. Nur, warum mit Einbürgerungstests und einer Schuldebatte, die die migrantische Unterschicht dafür verantwortlich machen will, dass das staatliche Schulsystem sie unten lässt? Tatsächlich folgte aus dem Brief, den das Lehrerkollegium der Neuköllner Rütlischule an den Berliner Senat schrieb, um gegen die unhaltbaren Zustände an der Schule zu protestieren, kein Aufschrei von Parteien und Medien gegen die eigene Sozial- und Bildungspolitik. CDU-Politiker regten vielmehr an, „nicht integrationswilligen“ Migrantenfamilien die sozialen Leistungen zu kürzen und sie auszuweisen. „Nicht Integrationsbereite“ erkenne man an ihren mangelhaften Deutschkenntnissen. Der Tenor: Rot-Grün habe blauäugig Toleranz und Multikultur gepredigt und trage mit dem reformierten Einwanderungsgesetz Schuld am allgemeinen Werteverfall in Deutschlands Schulen und Städten bei. „Die bürgerlichen Parteien, die 1968 die Diskurshoheit verloren, wehrten sich nur schwach dagegen, weil sie nicht als ausländerfeindlich an den Pranger gestellt werden wollten“, leitartikelte die FAZ. Aber, wer hat in den Achtzigern und Neunzigern das Land regiert? Es waren die Unionsparteien, die unter Helmut Kohl alle zaghaften Ansätze einer „Integrationspolitik“ in Deutschland nach Kräften blockierten.

So steht die Ära Kohl von heute aus betrachtet vor allem auch für einen während der deutschen Einheit geschürten Nationalismus. Dass die Bundesrepublik Deutschland immer schon ein Einwanderungsland war, wollte dieses Lager bis in die späten Neunziger nicht wahrhaben. Mit weitreichenden Konsequenzen. Die Chance einer „zweiten deutschen Einheit“ unter Einbezug der Zugewanderten wurde damals verspielt, konstatierte jüngst das nicht gerade als Rot-Grün-freundlich verschriene Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Im Zuge der Integrationsdebatte erinnerte es an die frühere leitkulturelle Haltung der Union: „Als in Deutschland dann Anfang der Neunzigerjahre in Solingen, Mölln und Rostock-Lichtenhagen Menschen verbrannt wurden und Flammen aus Asylunterkünften loderten – war Kohl nicht da.“

Viele halten die jetzige Aufregung um Stadtteile und Schulen mit einem stark migrantischen Unterschichtenanteil denn auch für ideologisch und übertrieben. Die meiste Gewalt, sagen empirische Sozialforscher wie Wilhelm Heitmeyer oder Christian Pfeiffer, spiele sich unabhängig von ethnischer Herkunft in der Familie ab. Im Osten Deutschlands und auch in einigen westlichen Provinzen – ohne hohen Migrationsanteil – sähe es kaum besser aus als in den vieldiskutierten Multikultivierteln Hamburgs oder Berlins. Wer tatsächlich alle Menschen ausweisen wolle, die schlecht Deutsch sprächen, bekäme überdies sehr viel zu tun. Schließlich beherrschen viele der „deutschen Deutschen“ die von der Union gewünschte „Leitkultur“ genauso wenig wie die eingewanderten Kollegen.

Dies dürften auch auf Seiten der Konservativen einige sehr wohl wissen. Doch die Versuchung, soziale Fragen mit einer populistischen „Ausländer raus!“-Kampagne zu verbinden, scheint trotz – oder gerade wegen – des von Schirrmacher diagnostizierten „Methusalem-Komplexes“ (der fortschreitenden Vergreisung der „deutsch-deutschen“ Gesellschaft) überaus groß. „Entscheidend“ für die unterschiedlichen Aufstiegschancen in Deutschland, sagt der CDU-Generalsekretär Volker Kauder, sei „nicht die kulturelle Differenz, also die ausländische Herkunft, sondern die soziale Differenz“. Bei den „in Deutschland lebenden Ausländern sind überproportional vertreten jüngere, in Großstädten lebende Männer, die zu einem größeren Teil unteren Einkommens- und Bildungsschichten angehören und häufiger arbeitslos sind“. Damit seien „exakt die Merkmale“ benannt, „die auch bei Deutschen zu einem höheren Kriminalitätsrisiko führen“. Doch allen sozialen Differenzierungen zum Trotz will Kauder weiterhin in den mangelnden Sprachkenntnissen – und nicht etwa in Diskriminierung oder wegrationalisierten Jobs – das Hauptproblem für die hohe Jugendarbeitslosigkeit unter den jungen MigrantInnen in Deutschland sehen.

Nur 3,3 Prozent der StudentInnen an den deutschen Hochschulen sind so genannte Bildungsinländer. Das ist der neueste Ausdruck für StudentInnen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber ihre Hochschulreife durch einen deutschen Schulabschluss erwarben. Viele Schulen suchen händeringend nach Lehrkräften mit binationalem und zweisprachigem Hintergrund. Doch das deutsche Bildungssystem hat solch ein – auch zum Krisenmanagement qualifiziertes – Personal nicht produziert. Gut 1,1 der 10 Millionen SchülerInnen in Deutschland besuchten 2006 eine Hauptschule, unter ihnen überproportional viele Migrantenkinder. Die Hauptschule steht am unteren Ende der Bildungspyramide. „Ich habe meine ganze Kraft investiert“, hat die langjährige Rektorin der Rütli-Schule Brigitte Pieck gesagt, um solche Verhältnisse zu verhindern, nur liegt das eigentliche Problem nicht in der arabischen, türkischen oder serbischen, sondern in der sozialen Herkunft der Schüler und ihren mangelnden Perspektiven. So hat im letzten Schuljahr kein Schüler einen Ausbildungsplatz erhalten.

Der Text ist ein leicht gekürzter Vorabdruck aus dem Katalog zur Ausstellung „This Land Is My Land“, die vom 18. Mai bis zum 30. Juli in der Kunsthalle Nürnberg und im Herbst in der Berliner NGBK zu sehen ist.