„Ein Pakt mit dem Teufel“

Die Louds ließen 1971 Kameras ins Haus, wurden berühmt und – vergessen. Jetzt kommt „An American Family“ ins Museum. Ein Interview mit Regisseur Alan Raymond zur Münchner Ausstellung

VON BENEDIKT SARREITER

taz: Herr Raymond, Sie haben Anfang der 70er mit „An American Family“ die erste dokumentarische, heute würde man sagen Reality-TV-Serie, gedreht. Was wollten Sie damit zeigen?

Alan Raymond: Anfang der 70er-Jahre bröckelte das Bild der amerikanischen Kernfamilie – die Scheidungsraten etwa stiegen damals eklatant. Die damaligen TV-Serien zeigten die immer gut funktionierende amerikanische Familie mit dem Vater als unumstrittenem Oberhaupt. Bill Loud dagegen ist auf vielfache Weise ein schwacher Charakter. Er versteht seine Kinder nicht, hat Affären und wird von seiner Frau rausgeschmissen. Wir wollten die Frage aufwerfen, ob die traditionellen Werte, an die alle Amerikaner glaubten, überhaupt noch bestanden oder längst überholt waren.

Wie reagierte die amerikanische Öffentlichkeit?

Geschockt. Wir wurden als Voyeure und die Familie als Exhibitionisten beschimpft. Es wurde uns vorgeworfen, die Scheidung der Louds verursacht zu haben. Eine komplizierte Frage. Natürlich waren wir nicht der Grund für die Trennung, aber wir könnten die Spannungen mit unserer Kamera erhöht haben. Pat Loud hat sicherlich die Kamera benutzt. In einer Szene fordert sie die Scheidung, will, dass Bill auszieht. Wenn wir nicht mit der Kamera dabei gewesen wären, wäre es vielleicht anders gelaufen.

Für wen war das Leben als Medienstar am schwierigsten?

Auf jeden Fall für Lance, den ältesten Sohn. Er war der Erste, der sich offen im amerikanischen Fernsehen zu seiner Homosexualität bekannte und dadurch wider Willen zu einer Ikone der frühen Schwulenbewegung wurde. Lance stand am meisten im Rampenlicht. Und dann ging das Licht aus, und er sollte wieder ein normales Leben führen. Er konnte diesen einen erfolgreichen Moment nie mehr wiederholen. Es ging bergab, er wurde drogenabhängig und starb 2001 an Hepatitis C und einer durch HIV verursachten Nebeninfektion.

Fühlen Sie sich dafür mitverantwortlich?

Obwohl wir diese Hysterie nicht voraussehen konnten, waren wir natürlich verantwortlich. Ich fühle mich deswegen aber nicht jeden Tag schlecht. Tief im Inneren weiß ich aber, dass wir der Familie etwas angetan haben, die Serie hat ihr Leben für immer verändert. Aber die Louds hätten andererseits auch nie die positiven Seiten dieser Erfahrung kennen gelernt. Medienprominenz hat immer zwei Seiten. Pat Loud bekam 100.000 Dollar, um ein Buch zu schreiben, sie zog nach dem Ende der Serie nach New York und führte ein angenehmes Leben. Lances No-Wave-Band „The Mumps“ hatte Erfolg, weil er bekannt war. Es ist ein Pakt mit dem Teufel. Man wird mitgerissen, wird richtig high, wenn man in die Medienöffentlichkeit katapultiert wird. Und dann muss man leider damit klarkommen, dass man kein richtiger Schauspieler, Autor oder Sänger ist, der es dort lange aushält. Und, puff! – ist alles vorbei.

Das Schicksal der Louds ist vergleichbar mit dem heutiger Reality-TV-Sternchen. „An American Family“ wird oft die Mutter des Reality-TV genannt. Was halten Sie davon?

Die Leute von „The Real World“ auf MTV haben oft „An American Family“ als ihr großes Vorbild bezeichnet. Die Sympathie ist aber eher einseitig. Ich mag „The Real World“ nicht, und mir ist es auch ziemlich egal, ob ich eine Inspiration für diese Show bin. „The Real World“ ist von vorn bis hinten fake. Die Leute kennen sich nicht untereinander, zehn werden aus tausenden gecastet. Die meisten Dialoge folgen einem Skript, viele Konflikte sind erzwungen, da die Produzenten sich nicht sehr viel Zeit nehmen und schnell ungeduldig werden, wenn nichts passiert. Bestimmt gibt es Dinge in „An American Family“, die man als Samen des modernen Reality-TV bezeichnen kann – es war eine kontroverse Show, es gab dramatische Wendungen – trotzdem: „An American Family“ ist eine ernsthafte Dokumentation, was die meisten Reality-TV-Formate sicherlich nicht sind.

Die Louds beschwerten sich nach der Ausstrahlung, dass nur die dunklen Kapitel ihres Lebens gezeigt wurden, die Serie nicht der Realität entsprach. Stimmen Sie dem zu?

Ich denke, der Mix war sehr gelungen. In den Folgen gibt es auch schöne Passagen, wo die Familie sehr liebevoll miteinander umgeht. Als aufrichtiger Filmemacher versucht man, die Essenz zu finden, die eine Sache am besten repräsentiert. Es ist mir eigentlich auch egal, ob die Leute, die ich filme, den Film mögen, denn sie können nicht objektiv urteilen. Wir wollten eine ehrliche Darstellung des Lebens einer amerikanischen Familie.

Sie haben also die Louds für einen höheren Zweck benutzt?

Als Dokumentarfilmer muss man das große Ganze sehen. Im Idealfall hält man der Gesellschaft mit seiner Arbeit einen Spiegel vor. Und ich glaube, „An American Family“ hat das getan. Vielleicht hat die Serie die Louds nicht glücklich gemacht, aber sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass eine Menge Diskussionen über die amerikanische Familie angestoßen wurden.