Mit Zwang zum Selbst

Schriften zu Zeitschriften: Wenn die Macht von innen wirkt, wie lässt sich dann noch ein Subjekt denken?

Wer kann heutzutage schon unterscheiden, ob die periodischen Katastrophenmeldungen vom Bankrott des Sozialstaates noch einer seriösen regierungsamtlichen Statistik oder bereits den PR-Abteilungen der privaten Versicherungskonzerne entstammen? Doch es gibt sie noch, die gute alte Ideologiekritik. Dafür muss man nur einmal die April-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik zur Hand nehmen.

Hier denunziert der ehemalige Wahlkampfmanager Willy Brandts, der Publizist Albrecht Müller, die wirtschaftsliberale Idee vom schlanken Staat als die feudalistische Ideologie einer „allenfalls betriebswirtschaftlich richtig denkenden Wirtschaftselite“. Nicht ohne Bewunderung für deren strategische Effizienz stellt Müller fest, dass es die Arbeitgeberseite geschafft habe, „das Bild unserer Gesellschaft – nach einer etwas anders geprägten Zwischenphase zu Zeiten der sozialliberalen Koalition von 1969 bis 1974 – neu zu prägen. Ihr Geist bestimmt unser Zusammenleben.“

Dass der Wunsch nach weiterem Sozialabbau an den Interessen einer schweigenden Mehrheit vorbei parteiübergreifende Meinungsführerschaft erlangt habe, sei vor allem den Einflüsterungen privatwirtschaftlich finanzierter Denkfabriken und PR-Initiativen zu verdanken. Sie seien eng mit der Politik verflochten und konzentrierten ihre Einflussnahme auf die Meinungsmacher der privaten und öffentlich-rechtlichen Medien. Offenbar mit Erfolg, denn diese behandelten „das Volk nicht als Souverän, sondern als Patient, dessen Stimmungslagen ergründet werden sollen“. Weit mehr als die übrige Bevölkerung seien die in den Massenmedien präsenten Eliten „Opfer der Meinungsbeeinflussung, weil sich Public-Relations-Agenturen zur Durchsetzung von bestimmten Meinungen und Themen, die sie im Auftrag von Interessenten betreiben, zuallererst an Eliten wenden.“ Doch wodurch dieses „Reform-Brainwashing“ überhaupt gelingt, bleibt auch für Müller ein Rätsel.

Immerhin – wie es funktionieren kann, Eliten „im Zeitalter der Shareholder-Value-Orientierung“ auf einen neuen sozialen Gerechtigkeitsbegriff einzuschwören, führt der Lehrbeauftragte der HfB Business School of Finance and Management, René Heinen, in der Zeitschrift Merkur vor. Vom schnöden Geld lenkt Heinen kurzerhand auf die immateriellen gesellschaftlichen Werte: „Der materielle und ideelle Umschlag der jeweiligen Personen mag sein, welcher er will, solange den einzelnen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben unter Wahrung ihrer Selbstachtung möglich ist.“

Selbstachtung aber könne „nicht durch den wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus sichergestellt werden, gerade weil er auf die Garantie eines ‚annehmbaren Lebensstandards‘ abzielt, der die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse in den Vordergrund stellt“. Dass der Sozialstaat auch etwas mit realen Ohnmachtserfahrungen zu tun haben könnte, mit Gebrechlichkeit, Alter, Demenz, Psychose etc., will einem hier gar nicht mehr in den Sinn kommen.

Doch beruht nun alles auf Indoktrination, wenn die Eliten den Zwangscharakter der Ökonomisierung einfach nicht wahrhaben wollen? „Wenn schon, dann wäre es der Zwang zu einem souveränen Selbst – er betört uns, spricht in uns selbst und verspricht ein gelungenes Leben“, schreibt die Soziologin Alexandra Rau in der neuen Ausgabe der Zürcher Zeitschrift Widerspruch. Sie spürt einem den neuen gesellschaftlichen „Subjektivierungsweisen“ inhärenten Machtverhältnis nach, das „eben mehr und anders als Zwang im bisherigen Verständnis ist“.

Rau zufolge ist die Prekarisierung der Arbeitswelt nicht bloß das zeitgemäße Gewand altbekannter Ausbeutungsmechanismen. Vielmehr gehe sie einher mit dem individuellen Wunsch nach Selbstverwirklichung: „Dieser Lebensform ist ein Ungenügen immanent, welches das Selbst in ständige Bewegung versetzt.“ Daher könne sich der unternehmerische Ruf nach Eigenverantwortung und Selbstorganisation „bequem auf Wünsche nach Autonomie und Persönlichkeitsentwicklung stützen, die uns als Erfahrung und Begehrensverhältnisse längst ‚Fleisch geworden‘ sind“.

Liegt es da nicht nahe, die Techniken einer „Intensivierung des Selbst“, die schließlich auch im ganz Privaten zu einer Prekarisierung sozialer Beziehungen führen können, nun auch als Produktionsmittel zur Steigerung der kapitalistischen Wertschöpfung einzubringen?

JAN-HENDRIK WULF

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2006, 8,50 €; Merkur 4/2006, 11 €; Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik 49, 16 €