Zeichen der Stärke

AUS WASHINGTONADRIENNE WOLTERSDORF

Die spanischsprachigen Radiosendungen und Moderatoren sind auf Hochtouren. Seit Wochen lieferten sie sich auf den Wellen, die sonst eher bekannt sind für heiße Rhythmen, die Befürworter und Gegner eines Boykotts verbale Schlachten. Denn ob das landesweite Muskelspiel der Latinos, nämlich am 1. Mai nicht zur Arbeit zu erscheinen, gut oder schlecht ist, darüber ist die frisch entstandene Latino-power-Bewegung gespalten.

Währenddessen haben zahlreiche US-Arbeitgeber ihre Vorkehrungen für einen möglichen Tag ohne Angestellte getroffen. Sie verteilten Petitionslisten für den Kongress in den Kantinenräumen, forderten ihre Latino-Kräfte auf, doch lieber zu unterschrieben statt zu marschieren – oder schlossen im Zeichen einer seltsamen Solidarität am gestrigen Montag gleich ganz die Betriebe. In den USA, wo der 1. Mai kein Feiertag ist – und viele längst vergessen haben, dass es der Internationale Tag der Arbeit ist, wurden sich jedenfalls schlagartig alle Unternehmer bewusst, was sie an ihren billigen Arbeitskräften aus dem Süden des Kontinents haben.

In Las Vegas bestürmten einige der größten Casinos ihre mexikanischen Croupiers und Kellner, nicht die Arbeit niederzulegen, sondern doch bitte mit ihren Protestaktivitäten bis nach der Schicht zu warten. Im mittleren Westen schlossen mehrere Fleisch verarbeitende Betriebe ganz. So etwa der der Cargill-Konzern, der seinen 15.000 Angestellten am gestrigen Montag gleich ganz frei gab – und sie dafür am kommenden Samstag zum Nacharbeiten einbestellte.

Ob der gestrige Tag zu dem wurde, was sich die rund 120 mitorganisierenden Vereine, Verbände und Migranten-Initiativen erhofften, nämlich der „Great American Boycott 2006“, begleitet von zahlreichen Demoveranstaltungen in den Großstädten, das stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Zahlreiche religiöse Gruppierungen, Gemeindeführer und Vereine hofften jedenfalls auf einen Tag ohne sichtbaren Machtbeweis der rund 50 Millionen Latinos. Sie befürchten, dass ein als aggressiv wahrgenommener Protest die Zustimmung in der amerikanischen Bevölkerung untergraben könnte, die die Billigarbeiter und Zuwanderer noch in den Mittelschichten genießen.

Befürworter des Boykotts hingegen sind sich sicher, dass das zeitlich gut inszenierte Muskelspiel eine wichtige und notwendige Erinnerung daran sein wird, wie abhängig die US-Wirtschaft von Migrantenarbeitern sei – und wie stark ihre Stimmmacht bei den kommenden US-Wahlen sein wird. Das Sichtbarmachen ihrer zahlenmäßigen Stärke sei gerade jetzt wichtig, wo sich Abgeordnete, der Senat und das Weiße Haus um eine zukunftsweisende Immigrationspolitik balgten.

Bereits im März waren an verschiedenen Wochenenden USA-weit über eine Million Migranten, die überwiegende Mehrheit davon aus Mittel- und Südamerika, auf die Straßen gegangen. Kommentatoren sprachen überrascht von der Geburt einer neuen politischen Macht im Lande, nämlich der Latinopower. Die ist bislang im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil politisch völlig unterrepräsentiert, da Latinos nur wenige politische Ämter in den USA inne haben. Für viele Hispanics waren die Demos im März und April dann auch die ersten politischen Aktivitäten ihres Migrantenlebens. Umso verständlicher ist die weit verbreitete Unsicherheit und die Angst, ihre Jobs zu verlieren. Bemerkenswert ist der Einsatz und das Engagement der hispanischen Medien bei der Erweckung dieses neuen Selbstbewusstseins. Über sie, die zahllosen Community-Radios, spanischsprachigen Tageszeitungen und TV-Shows, haben die mehreren hundert Organisationen effektiv kommuniziert und gezeigt, wie gut die Hispanics mittlerweile in ihrer neuen Heimat vernetzt sind.