Der Zweifel an der Heimat

VON PHILIPP GESSLER

Ab und zu machte Paul Spiegel etwas herbere Witzchen darüber: Ihm werde es nicht so ergehen wie allen anderen Präsidenten (früher: Vorsitzenden) des Zentralrats der Juden, betonte er. Er habe nicht vor, im Amt zu sterben. Im Dezember dieses Jahres wäre seine Amtszeit zu Ende gegangen. Doch auch ihm war es nicht vergönnt, lebend aus dem Amt zu scheiden. Am frühen Sonntagmorgen ist Paul Spiegel in einer Düsseldorfer Klinik gestorben. Im Kreis seiner Familie.

Darin liegt ein Trost, denn die Familie war es, die das Leben Paul Spiegels tief durchdrang – von der Ermordung seiner Schwester Rosel durch die Nazis bis zum Weiterleben der Restfamilie nach der Schoah im münsterländischen Warendorf, woher die Spiegels kamen. Eine Familie von Viehhändlern, verwurzelt in der Kleinstadt seit Generationen.

Wohl deshalb flohen die Spiegels erst, als es fast schon zu spät war, 1939 aus Deutschland nach Belgien. Nach der Besetzung Belgiens durch die deutschen Truppen wurde Paul Spiegel dort versteckt, erst in Brüssel mit seiner Familie, dann allein bei einer katholischen Bauernfamilie in Flandern – nur sie und ein Pfarrer wussten, wer er war. Zur Tarnung sollte er regelmäßig zum Rosenkranzbeten in die Messe gehen. Der Geistliche hatte den Rosenkranz geschenkt. Paul Spiegel hütete ihn noch Jahrzehnte später wie einen Schatz.

Paul Spiegels Schwester Rosel wurde in Auschwitz vergast, wie er erst über 50 Jahre später erfuhr. Seine Mutter, erinnerte er sich, schickte Rosel in Brüssel zu Besorgungen aus dem Versteck, weil sie fließend Französisch sprach – mit der Mahnung, niemandem zu sagen, dass sie jüdisch sei. Eines Tages wurde sie von einem Gestapo-Mann auf der Straße angesprochen und gefragt, ob sie Jüdin sei. Sie bejahte dies. Es war ihr Todesurteil. „Wer stiehlt ein kleines Mädchen von der Straße? Wer steckt ein Kind in einen Viehwaggon, damit es viele tausend Kilometer weiter mutterseelenallein im Gas erstickt? Ich begreife es bis heute nicht“, schrieb Paul Spiegel vergangenes Jahr zum Holocaust-Gedenktag.

Die Erinnerung an seine geliebte Rosel, von der er noch Jahrzehnte später träumte, prägte Paul Spiegel – es war das Feuer, das in diesem ruhigen Mann brannte. Das Wasser war sein Vater. Er hatte Buchenwald, Auschwitz und Dachau sowie einen Todesmarsch überlebt und überzeugte die Familie dennoch, nach 1945 wieder zurück in die Heimat zu ziehen, nach Warendorf. Die Familie integrierte sich offenbar wieder voll in die Kleinstadt. Irgendwie. Trotz all der Nazis um sie herum. Paul Spiegels Vater wurde sogar Schützenkönig.

Begründete sich im Leid wegen des Schicksals seiner Schwester Paul Spiegels grundsätzliches Misstrauen gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft, so stand der Vater dafür, dass trotz des Holocausts ein Weiterleben nach dem Massenmord im Land der Täter möglich war. Und so schwankte Paul Spiegel stets zwischen fast euphorischen Versicherungen, man könne in Deutschland als Jude mittlerweile fast wieder normal leben – und Stunden des Zweifels darüber, wie sicher dies jüdische Leben hierzulande wirklich ist. Als der langjährige FDP-Frontmann Jürgen W. Möllemann 2002 versuchte, mit antisemitischen Anspielungen auf Stimmenfang zu gehen, erschütterte dies Paul Spiegel zutiefst. Wie war das möglich, Jahrzehnte nach dem Holocaust? Warum dauerte es so lange, bis sich der Rest dieser ach so staatstragenden Partei von Möllemann distanzierte?

Wer Paul Spiegel näher erlebte, spürte recht bald diese Skepsis gegenüber allem, was schnell als deutsch-jüdische „Normalität“ (meist von Nichtjuden) für die Berliner Republik ersehnt wird – vielleicht weil er selbst die Grenzen der „Normalität“ erlitt:

Einerseits war da das Leben mittendrin im deutschen Alltag, zunächst als Reporter einer Lokalzeitung, später als politischer Korrespondent und Redakteur der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung. Zu einigem gesellschaftlichen Ansehen kam Paul Spiegel als PR-Chef des Rheinischen Sparkassen- und Giroverbandes und schließlich als Leiter der eigenen Künstleragentur, die mit deutschen Showstars wie etwa Udo Lindenberg, Thomas Gottschalk oder gar Dieter Thomas Heck renommierte. Nicht ohne Stolz ließ er sich in der Düsseldorfer Agentur vor einer Wand mit Fotos von diesen Prominenten neben sich ablichten.

Andererseits war da das Gefühl, doch ein Fremder zu sein, wenn sich Paul Spiegel als Zentralratspräsident mal wieder mit Wäschekörben voll judenfeindlicher Schmähbriefe konfrontiert sah. Für viele war er als Jude und qua Amt eben doch nicht einfach nur ein Deutscher unter Deutschen. „Ich komme mir manchmal vor wie ein Prediger, der in einer leeren Synagoge oder einer leeren Kirche predigt“, hat Paul Spiegel einmal gesagt. Die Politik schmückte sich gern mit diesem freundlichen Herrn. Aber wirklich zugehört hat sie ihm selten.

Deshalb war Paul Spiegel vielleicht dann immer am stärksten, wenn ihn die Wut packte und er die Diplomatie einmal beiseite ließ – etwa am 9. November 2000 am Brandenburg Tor beim „Aufstand der Anständigen“ in Berlin, als er vor der CDU-Spitze zürnte: „Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?“ Paul Spiegel war nie so verbittert wie der späte Ignatz Bubis, sein Vorgänger im Zentralratsamt, der nicht in Deutschland beerdigt werden wollte. Aber immer wieder äußerte er in den vergangenen Monaten Skepsis über dieses Land, das ihm doch sein eigenes war.

Paul Spiegel fehlte die intellektuelle Brillanz eines Salomon Korn, seines Vizepräsidenten im Zentralrat – und bei der Flick-Ausstellung kam es auch zu einem Streit zwischen beiden, da Korn, anders als Spiegel, das Skandalöse der Schau nicht gutmütig verschweigen wollte. Auch an die gedankliche und sprachliche Schärfe eines Michel Friedman, bis 2003 ebenfalls Vizepräsident, kam er nicht heran. Eher skurrile, spontane Ideen (etwa Sirenenalarm am Holocaust-Gedenktag wie in Israel) rutschten ihm da öfters öffentlich durch.

Dennoch war er innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinde hoch geachtet, weil er stets den Ausgleich suchte – und fand: sei es mit der Bundesregierung, die mit dem Zentralrat unter seiner Führung einen historischen Staatsvertrag abschloss, sei es mit den dissidenten religiös-liberalen Juden oder der russischsprachigen Mehrheit in den jüdischen Gemeinden. Es umgab ihn Wärme und Gelassenheit, zum Streiter und Mahner war er nicht geboren.

Paul Spiegel wurde 68 Jahre alt. Am Donnerstag wird er beerdigt. Im Kreis seiner Familie.