Lateinamerikas offene Öladern

Die Nationalisierung der bolivianischen Öl- und Gasvorkommen war nicht allzu radikal. Erst wenn Evo Morales zu Enteignungen greift, drohen harte Konflikte – auch mit den USA

Den Zeitpunkt hat Evo Morales gut gewählt: Die Nervosität bei Öl und Gas ist weltweit auf dem HöhepunktDen USA könnten Enteignungen als Vorwand dienen, um den Linkspopulismus abzustrafenEin Staatsstreich wäre leicht zu inszenieren. Unter den mächtigen Unternehmern gäbe es genug Verbündete

Man hat sich schon daran gewöhnt, dass Politiker gerne große Versprechen machen, sie aber nie einhalten. So sehr, dass man überrascht, sogar ein bisschen empört ist, wenn einer dann tatsächlich tut, was er angekündigt hat. In Lateinamerika sorgen erstaunlicherweise gerade die größten aller Maulhelden für solche Überraschungen: Der Populist Hugo Chávez, Präsident von Venezuela, redet zwar viel und lange, tut aber oft auch das, was er angekündigt hat. Jetzt hat es auch sein bolivianischer Kollege Evo Morales getan. Die Nationalisierung der Öl- und Gasvorkommen des ärmsten Landes Südamerikas kam nicht aus heiterem Himmel. Morales hat bereits als Oppositionsführer 2004 ein Referendum eben dieses Inhalts durchgesetzt. Die Nationalisierung der Bodenschätze war ein zentraler Teil seines Wahlprogramms. Am 1. Mai nun hat er sie per Dekret vollzogen. Dies sei „das beste Geschenk, das man den Arbeitern an ihrem Tag machen kann“.

Der Zeitpunkt war geschickt gewählt: Im Konflikt um das iranische Atomprogramm droht die Regierung in Teheran immer wieder, dem Westen kein Öl mehr zu liefern. In Nigeria, Afrikas größtem Erdölproduzenten, stockt die Produktion wegen bürgerkriegsähnlicher Zustände in den Fördergebieten. Die Bevölkerung dort will mehr abbekommen vom Reichtum in ihrem Boden. Die russische Regierung deutet immer wieder an, Öl und Gas vielleicht doch lieber nach China als in den Westen exportieren zu wollen. In den von Öl- und Gasimporten abhängigen Industrienationen nimmt die Nervosität zu. Die Preise erreichen Rekordhöhen. Und die USA, die alles regeln könnten, sind vom Irak abgelenkt. Sie kümmern sich seit Jahren nicht mehr darum, ob in ihrem lateinamerikanischen Hinterhof alles so läuft, wie sie es sich wünschen.

Und dort läuft längst nicht mehr alles nach dem Gusto Washingtons: Sozialdemokratische und linkspopulistische Regierungen dominieren den Halbkontinent; an eine gesamtamerikanische Freihandelszone, wie sie sich schon Präsident George W. Bushs Vorgänger Bill Clinton gewünscht hatte, glaubt kaum mehr einer. Auch innenpolitisch steht Morales prächtig da: Nie vor ihm wurde ein Präsident in der demokratischen Geschichte Boliviens mit so großer Mehrheit gewählt. Günstige Umstände also für einen radikalen Schritt.

Besonders radikal freilich war das bislang zumindest nicht. Zwar schickte Morales Soldaten auf die Förderanlagen und schritt im Blaumann und mit Schutzhelm selbst zur Tat. An den Besitzverhältnissen aber hat sich vorerst nichts geändert. Das Dekret zur Nationalisierung der Öl- und Gasvorkommen – der dritten schon in den vergangenen siebzig Jahren – tastet das Eigentum der internationalen Energiekonzerne nicht an. Die verhielten sich zwar immer so, als seien sie die Herren über Öl und das Gas. Tatsächlich aber besitzen sie bloß die Förderanlagen.

Die Bodenschätze gehörten schon immer dem Staat. Die Energiekonzerne bekommen für die Förderung lediglich einen Teil des Erlöses. Bis Mitte vergangenen Jahres waren das in Bolivien satte 82 Prozent, für den Staat blieben gerade 18. Carlos Mesa, der Amtsvorgänger von Morales, erhöhte den Staatsanteil auf 50 Prozent. Das jetzt verkündete Dekret erhöht ihn noch einmal auf jetzt 82 Prozent. Allerdings nur für Anlagen, die mehr als 100 Millionen Kubikfuß Gas pro Tag fördern. Für die anderen – und das ist die Mehrheit – ändert sich gar nichts. Außer der Kontrolle. Das Dekret schreibt ausdrücklich fest, dass Öl und Gas von der Förderung über die Aufbereitung bis zur Vermarktung unter der Kontrolle des Staatsbetriebs Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) stehen. Damit soll verhindert werden, dass internationale Konzerne die Bodenschätze am bolivianischen Fiskus vorbei vermarkten – was in der Vergangenheit wohl in großem Stil geschah.

Die internationalen Reaktionen auf die Nationalisierung fielen verhältnismäßig zurückhaltend aus. Auf den Energiemärkten werden keine größeren Auswirkungen erwartet. Bolivien besitzt zwar die zweitgrößten Gasreserven Amerikas, die meisten aber sind noch nicht erschlossen. Exportiert wird nur nach Brasilien und Argentinien. Brasiliens Präsident Lula da Silva ließ sich schnell mit der Zusicherung beruhigen, das Gas werde wie gehabt weiter geliefert. Der staatliche brasilianische Energiekonzern Petrobras, der im vergangenen Jahrzehnt rund 1,5 Milliarden Dollar in Bolivien investiert hat, grummelte ein bisschen. Genauso die spanische Regierung, die sich um das spanisch-argentinische Konsortium Repsol-YPF sorgt. Das hat rund eine Milliarde Dollars in Bolivien investiert.

Trotzdem kann es noch richtig Krach geben. Das Nationalisierungsdekret gibt den internationalen Energiekonzernen 180 Tage Zeit, um neue Verträge mit der bolivianischen Regierung auszuhandeln. Morales kann dabei nicht hinter die im Dekret gesetzten Eckmarken zurück, ohne das Gesicht zu verlieren. Das engt den Verhandlungsspielraum erheblich ein. Sollten am Ende keinen neuen Verträge stehen, hat Energieminister Andrés Soliz Rada bereits mit Enteignungen gedroht. Der eine oder andere Investor könnte durchaus frustriert das Handtuch werfen. Und die US-Regierung könnte Enteignungen als Vorwand nehmen, um dem Linkspopulismus in Lateinamerika einen schweren Schlag zu versetzen. Anders als im Fall Venezuela sind die Vereinigten Staaten nicht von der Öl- und Gasproduktion Boliviens abhängig. Es ist leicht, Morales zu schlagen und Chávez zu meinen. Und ganz nebenbei könnte Bush damit ein zweites Problem erledigen: Morales will nicht nur die Kontrolle über die Bodenschätze, sondern auch den Anbau von Koka legalisieren.

Ein Staatsstreich in Bolivien ließe sich gefahrlos inszenieren. Verbündete gibt es genug. Die mächtigen Unternehmer der reichen Provinzen im Tiefland, wo die Öl- und Gasfelder liegen, wollen ohnehin möglichst viel Unabhängigkeit von der Zentralregierung und ihren Reichtum nicht mit den armen Hochlandindios teilen. Die Regierung in Washington müsste sie bloß ein bisschen anstacheln und ihnen finanziell und organisatorisch unter die Arme greifen, schon könnte Bolivien im Chaos versinken – wie Chile Anfang der Siebzigerjahre unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. So etwas lässt sich mit geringem Aufwand trotz des Schlamassels im Irak bewerkstelligen. Am Ende bräuchte es gar keinen Militärputsch. Die Bolivianer haben in den vergangenen Jahren oft genug bewiesen, dass sie auch ohne Soldaten ihre Präsidenten stürzen können.

Sollte Morales statt der versprochenen Gas-Millionen nur noch mehr Armut und Chaos bringen, ist er schnell aus dem Amt verjagt. Und der Versuch, die seit über 500 Jahren „offenen Adern Lateinamerikas“ (Eduardo Galeano) langsam wieder zu schließen, wäre gleich zu Beginn gescheitert. TONI KEPPELER