meine werte (3)
: Es gibt eher zu viele Werte

Das innere Motiv der grassierenden Wertedebatte (und des konservativen Werteklimbims) ist die Auffassung, dass ein Mangel an Werten besteht – und dass dieser Mangel etwas mit linkem Werterelativismus und kulturellem Hedonismus zu tun hat. Werfe ich einen selbstreflexiven Blick auf mich selbst, muss ich freilich feststellen, dass ich eher zu vielen Werten anhänge als zu wenigen. Vielleicht ist das auch das Geheimnis des Dilemmas mit den Werten: dass ab einer gewissen kritischen Menge an Werten diese in Widerspruch zueinander geraten und vom Subjekt fein gegeneinander austariert werden müssen – was die imperative Wucht des jeweils einzelnen Wertes natürlich wiederum etwas in Mitleidenschaft ziehen kann.

Nur ein paar Beispiele aus meinem Werteportefeuille: Ich meine, dass jeder die Möglichkeit haben soll, so viel wie möglich aus seinem Leben zu machen. Ich möchte, dass jeder sein Ich entwickeln kann. Ich bin da für maximale Vielfalt. Und ich möchte, dass jeder aus sich machen kann, was er will – bin also gegen Bevormundung. Was aber, wenn jemand nichts aus sich macht? Gebührt ihm dafür weniger Respekt? Aber ist die Freiheit, nichts aus sich zu machen, nicht auch durch die Freiheit und das Vielfältigkeitsgebot gedeckt? A propos Respekt: Natürlich ist, wer nichts aus sich macht, täglich vor der Glotze hängt und RTL guckt, bunte Trainingshosen trägt und Sixpacks in sich hineinleert, ein Opfer des Konsumkapitalismus mit seinen neuen Ungleichheitskulturen. Aber ist diese Identifikation als Opfer nicht auch schon wieder ein Versagen von Respekt? Knifflig. Und dabei sind das nur die Dilemmata im Wertedetail.

Denn zum Respekt vor der Vielfalt bringt mich ja der Wert, der mir am meisten Wert ist: die Gleichheit. Theoretisch geht das gut zusammen. Denn Vielfalt und Gleichheit sind Zwillinge, weil Gleichheit ja auch heißt: gleicher Respekt für jede Lebensart. In der Praxis ist das natürlich weit vertrackter. Mehr Gleichheit hat sich in der Geschichte nur dann verwirklicht, wenn sich Menschen zusammentaten, um für sie einzutreten, und das ging umso besser, wenn sie sich als ihresgleichen begegneten – zu viel Vielfalt ist aber der Feind solcher Begegnungen.

Insofern sind Gleichheit und Vielfalt bzw. Freiheit schon auch wieder Antipoden, weil soziale Gleichheit eine gewisse soziale Homogenisierung bedingt. Andererseits sind Gleichheit und Freiheit aber doch auch wieder Zwillinge, denn krasse Ungleichheiten bedeuten: Freiheiten für ein paar, eingeschränkte Lebenschancen, also Unfreiheit für viele. Insofern muss man sich immer über Menschen wundern, die zu selbstsicher ihre Werte verkünden. ROBERT MISIK