German Angst

Elf Thesen zur (fast) abgelaufenen Bundesliga-Saison: Warum Kahn ein Held ist, Klinsmann dieLiga nicht mag und Fortschritt nur da möglich ist, wo Tradition als Vergangenheit begriffen wird

Die Mittelschicht stürzt ab: Wie in anderen Bereichen der Gesellschaft war auch das Hauptmotiv dieser Bundesligasaison ein negatives – die Angst vor dem Absturz. Das meint nicht nur die unterste Schicht, die immer gegen den Abstieg aus der Liga strampelt oder die Strampelnden, aber de facto bereits Abgestürzten (Kaiserslautern). Das betrifft auch die eben noch fröhliche Mittelschicht, die dachte, sie sei zum Bayern-Herausforderer berufen (speziell Wolfsburg, aber auch Hertha, Stuttgart, Dortmund). Nach oben geht (mit der Ausnahme HSV) nichts mehr. Zwei neue Mittelmäßige (Hannover, Mönchengladbach) kommen nicht voran und werden auch permanent von Angst getrieben. Und die ganz Schwachen werden noch schwächer. Klar, Fußball ist Unterhaltung, und auch der Kampf gegen den Abstieg kann unterhalten. Aber erstens ist die Reduzierung darauf eben Ausdruck und Ergebnis fehlender Qualität. Zweitens soll Fußball Spaß machen und hin und wieder eine Utopie aufleuchten lassen – und (auch wenn eins aus dem anderen folgt) nicht bloß die gesellschaftliche Depression abbilden. PU

Der mittelmäßige Champion: Der FC Bayern wird Meister, keine Frage, Felix Magath wird seinen vierten Titel mit den Münchnern gewinnen. Eine fabelhafte Ausbeute binnen zweier Jahre, und doch ist eines unübersehbar: Die Bayern liefern eine ihrer schlechtesten Spielzeiten seit Jahren ab. Wieder einmal ist es weniger der eigenen Klasse als der Inkonsistenz in den Leistungen der Kontrahenten geschuldet, dass der Titel in München begossen werden darf. Erinnerliche Matches waren die Ausnahme, das Spiel der Bayern im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig. Wer daraus Rückschlüsse auf den Zustand der Bundesliga zieht, liegt nur allzu richtig. SOS

Das unnötige Ballack-Bashing: Michael Ballack ist schon immer Michael Ballack gewesen. Das müsste eigentlich nicht der Erwähnung wert sein, wäre er nicht in den vergangenen Wochen in den Verdacht geraten, ein völliger Versager zu sein. Es lief rauf und runter nicht rund bei Bayern München und plötzlich war er an allem schuld. Und plötzlich war die Sehnsucht groß nach Stefan Effenberg, dem Mitreißer-Aufputscher-Großmaul. Und plötzlich war Ballack eine phlegmatische Provokation. Aber Michael Ballack ist all die Jahre bei Bayern nicht Effenberg gewesen, und trotzdem ist er der einzig international renommierte Star unter den deutschen Feldspielern geworden. Irgendwas kann er also wohl doch. KWK

Kein Spielmacher, nirgends: Nachdem klar war, dass Michael Ballack die Sehnsüchte der Fans nach einem Spielführer nicht erfüllen wird, ging der Blick in andere Arenen. Marcelinho? Spielte seine schwächste Saison im Hertha-Dress. Van der Vaart? Blieb blass und litt unter Blessuren. Micoud? Kickte immerhin solide. Und sonst? Der Spielmacher als Spiritus rector scheint obsolet. Die Führung hat die Mannschaft übernommen – im besten Falle. MV

Die langsame Liga: Die Engländer haben einen schönen Begriff für die Hasenfüßigkeit der Deutschen: German Angst. Sie geht auch in der Bundesliga um und sorgt dort für ein starres, schematisches Spiel ohne Tempo und Pfiff. In der Premier League wird Billard mit dem Ball gespielt, hierzulande nehmen die Bundesligisten fast immer Abstand von der Beschleunigung des Balles. Bremen experimentiert immerhin mit der neuen Geschwindigkeit im Spiel, bezahlt die Versuchsphase aber mit zu viel Gegentoren. MV

Der neue Sechs-Appeal: Martin Demichelis ist einer der Lieblingsspieler von Bayerntrainer Felix Magath. Der Dortmunder Sebastian Kehl wurde von Bundestrainer Jürgen Klinsmann sogar mit dem brasilianischen Weltmeisterausputzer von 1994 Carlos Dunga verglichen. Demichelis und Kehl sind so genannte Sechser. Noch vor nicht allzu langer Zeit wurden die Sechser Staubsauger genannt, galten als destruktives Relikt der Fußballvorzeit, in der der defensive Mittelfeldakteur immer mit der Rückennummer 6 gespielt hat. Die Zerstörer haben also ein Comeback gefeiert, sind anerkannte Schlüsselspieler, auch wenn ihre Qualität im Spiel nach vorne zu wünschen übrig lässt – siehe Kehl und Demichelis. ARUE

Der Siegeszug des Kahn: Die Debatte um die deutsche Spielphilosophie und welcher Torhüter zu ihr passt hat einen neuen Typus des Keepers zutage gefördert, von dem man noch nicht wusste, dass es ihn wirklich gibt: Gemäß dem niederländischen Torwartexperten Frans Hoek ist es der Antizipationstorhüter, dessen Prototyp Edwin van der Saar ist. Er gilt als das Gegenteil zum so genannten Reflextorhüter (Prototyp Kahn). Das ist schön. Allein: Wann hat ein Antizipationstorhüter in der Bundesliga ein Match entschieden? Ein Antizipationskeeper von Format macht das Spiel schnell, ein Reflextorhüter, der viel Wert auf seine Präsenz legt, hält auch schon mal einen Unhaltbaren. Womit das vermeintliche Auslaufmodell Kahn erste Wahl für jene bleibt, die nicht nur Spiele, sondern Titel gewinnen möchten. SOS

Der Baby-Boom in der Liga: Der Liga-Fußball hat doch eine Zukunft. Es sieht doch verheißungsvoll aus, was all diese Talente zeigen, die auf einmal aus den Nachwuchsabteilungen ans Licht drängen. In Kaiserslautern etwa. Teens und Twens wie Fromlowitz, Halfar, Reinert, Schönheim sind erst in der laufenden Spielzeit in die Bundesliga eingestiegen und haben sich schon völlig etabliert. Auch in Frankfurt, Berlin, Köln, Gladbach, Dortmund usw. schleichen sich junge Spieler in die Stammelf und fallen angenehm auf. Gut, das sind jetzt in der Mehrzahl Vereine, die nicht unbedingt erreicht haben, was sie erreichen wollten. Aber es geht ja auch um die Zukunft. KWK

Die Liga der B-Stars: Bayerns Franzose Willy Sagnol wünscht sich einen Spieler wie den brasilianischen Stürmer Adriano für die Bundesliga. Den Wunsch wird ihm wohl keiner erfüllen. Denn die Bundesliga zieht keine echten Stars an. Die meisten von ihnen sind sicher zu teuer für die im europäischen Vergleich seriös wirtschaftenden Clubs. Wahrscheinlich sind sie auch einfach zu gut für die Liga. Die muss wohl weiterhin wackere Fußballwerkler wie Koreas WM-Helden Ahn Jung-Hwan, den dänischen Ex-Mailänder Jon Dahl Tomasson oder den europäischen Fußballvagabunden und Catcher-Sohn Daniel van Buyten als Superstars verkaufen. ARUE

Nachhaltiger Fortschritt ist möglich: Und zwar da, wo das moderne Fußballunternehmen das Potenzial des Standortes noch nicht ausgeschöpft hat, aber nun dabei ist, das zu tun. Also beim Hamburger SV, und (mit Vorbehalt) bei Eintracht Frankfurt. Es nützt nichts, von Europapokalsiegen aus der Steinzeit des Fußballs (1983) zu stöhnen oder von Goldenen Zeiten mit Grabowski oder Uwe Bein – und darauf zu bestehen, dass einem das zustünde. Fortschritt ist da, wo Tradition als Vergangenheit begriffen wird und nicht als Zukunft. Hoffmann/Beiersdorfer beim HSV und Bruchhagen bei der Eintracht haben das verstanden. PU

Die Liga im WM-Schatten: Bundestrainer Jürgen Klinsmann hat während der Saison nichts unversucht gelassen, die Bundesligisten zu desavouieren. Man trainiere falsch, hieß es alsbald, nach alten Riten. Die Spieler seien nicht fit und die Konzepte überholt. Kurzum: Die Liga befinde sich in Regression, während Klinsmann den fußballerischen Fortschritt propagiert. Allerdings taten sich die Nationalspieler in der Liga nicht groß hervor. Metzelder, Kuranyi oder Schweinsteiger saßen gern mal auf der Auswechselbank. MV

Autoren: Stefan Osterhaus, Andreas Rüttenauer, Peter Unfried, Markus Völker und Katrin Weber-Klüver