Der totalisierende Fetisch

Na klar, dass die Fußball-WM kommen wird, daran haben sich inzwischen alle gewöhnt. Und so sei es also. Doch einmal muss man ihn bringen, den breit angelegten Fifa-Hasser-Text, schließlich trägt das Ereignis Züge einer negativen Utopie. Hier ist er

Traurig, dass man sich als Fan des Fußballs weniger auf das Eröffnungsspiel denn auf den 9. Juli freuen muss – dann ist alles zu Ende

VON CHRISTIAN KORTMANN

Von den vielen fantastischen Ideen des Schriftstellers Michael Ende ist die schönste vielleicht die des Scheinriesen in seinem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Ein Scheinriese sieht nur von ferne aus wie ein Gigant und schrumpft, je näher man ihm kommt. So ähnlich verhält es sich mit einer Fußballweltmeisterschaft: Erlebt man das einmonatige Spektakel aus interkontinentaler Distanz vor dem Fernseher, so wirkt es wie ein glamouröses Fest sportlicher Kunst und Lebensfreude. Es sind die vertrauten sexy Bilder aus der brasilianischen Fankurve, die lustigen Geschichten rund um die exotischen Mannschaften und eine Hand voll guter Fußballspiele, die uns alle vier Jahre begeistern.

Das ist die nach allen Regeln der Medienkunst inszenierte Fassade. Doch erlebt man das Großereignis als Einwohner des Gastgeberlandes, so schrumpft die Substanz hinter dem schönen Schein auf fragwürdige Geschäftemacherei unter dem Deckmantel des Weltvolkssports Fußball zusammen. Vor Ort sieht man nämlich auch die hässliche Kehrseite der WM-Inszenierung und erlebt, wie sehr sich Sport und Gesellschaft den Wünschen der Wirtschaft beugen.

So wirkt die WM wie das Szenario einer Dystopie, einer negativen Utopie, denn die Vermarktungsstrategie der Fifa hat einen totalitären Charakter, den man bisher nur aus den beklemmenden literarischen Zukunftsvisionen von Aldous Huxley, H. G. Wells oder George Orwell kannte. Für die detaillierte Personendatenerfassung bei der Ticketvergabe wurde der Fifa der unabhängige Big-Brother-Award verliehen: In Orwells Roman „1984“ ist bekanntlich der Große Bruder Sinnbild für den Überwachungsstaat.

Große Bereiche des öffentlichen Lebens in Deutschland werden im Sommer den Regeln einer Besatzungsmacht folgen, die im Namen des Fußballs demokratische Grundrechte in Frage stellt: Die Fifa ist ein globales Kartell von Machtverflechtungen und Abhängigkeiten, das sich in jedem WM-Jahr in einem anderen Land materialisiert – und jedes Mal in expansiverer Form. Es setzt an den Spielorten ein Regime von Law and Order in Kraft, das den offiziellen Sponsoren Exklusivität zusichert und bereit ist, diese rigoros durchzusetzen: Auch nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der den Schutz der Marke „Fußball WM 2006“ ablehnte, will die Fifa weiterhin in Einzelfällen gegen die nicht lizenzierte Nutzung des Begriffs vorgehen. Es bleibt dabei: Die Stadien und ihr Umfeld werden zu „kontrollierten werbefreien Zonen“, wie der Spiegel schrieb, in denen es keine feindliche Werbung geben darf und sogar Herstellerhinweise in der Infrastruktur, zum Beispiel auf Geldautomaten, überklebt werden müssen. Nach Willen der Fifa sollen auch die städtischen Ordnungsämter helfen, inoffizielle Werbung wie das „WM-Brot“ des kleinen Bäckers aufzuspüren.

Neben der Einschränkung der Werbefreiheit ist auch das System der Ticketvergabe fragwürdig. Eintrittskarten sind so teuer, dass es einem in den unteren Einkommensklassen weh tut. In den Stadien werden also vor allem Besserverdienende und in den VIP-Lounges Honoratioren und Gäste der Sponsoren sitzen, die Tickets en masse zur Verfügung haben. Es ist verräterisch, dass ein Sportereignis, das allen Freude machen soll, im Vorfeld solche Polaritäten und Zwietracht erzeugt: Spätestens bei den Bildern des Krawalls nach dem Relegationsspiel der Türkei gegen die Schweiz dachte man, dass das Goldene Kalb WM die Menschen nicht nur zum Guten, sondern auch zum Schlechten verleitet. Übertriebener Ehrgeiz zerstört jeden spielerischen Charakter, das gilt nicht nur für den Sport, sondern auch für den Rahmen, in dem er stattfindet.

Als wahrer Sportfreund will man sich von der WM abwenden, weil sie sich allein der Gewinnmaximierung verschrieben hat: Ein Plus von 1,6 Milliarden Euro wird von Sepp Blatters Fifa angepeilt. Die WM offenbart im Vorfeld also, was sie wirklich ist: ein mit ökonomischen Partikularinteressen überladenes Mega-Logo, das skrupellos ausgebeutet wird.

Angesichts dieses enthemmten Merkantilismus ist es ein Hohn, dass die Fifa weltweit 15.000 freiwillige, überwiegend jugendliche Helfer für die WM rekrutieren konnte, so genannte Volunteers, was schicker klingt als „unbezahlte Hilfsarbeiter“. Mit Benefiz hat deren zweifelhaftes Ehrenamt im Dienst des Kapitals nichts zu tun. Da könnten sie genauso gut gratis bei der Deutschen Bank putzen gehen. Sogar Kulturinstitutionen an den Spielorten scheuen sich nicht, über den Köder WM Freiwillige ohne Honorar für sich schuften zu lassen: In München sucht man in André Hellers Auftrag „60 Frauen mit schauspielerischem Talent und 40 Männer für Bühnenumbauten“ für die Eröffnungsfeier unter Regie des Volkstheater-Intendanten Christian Stückl. Das Eröffnungsspiel dürfen die 100 Freiwilligen nach getaner Arbeit selbstverständlich nicht anschauen. Die hoch motivierte, kosten- und anspruchslose Arbeitskraft: Im WM-Jahr wird dieser Unternehmertraum wahr!

Fast jeder, der in Deutschland Geld verdienen will, wirbt mit der WM, sogar die Evangelische Kirche. Die Bundesagentur für Arbeit prognostiziert 100.000 neue Arbeitsplätze während des Turniers. Das an sich wunderbare Spiel, bei dem 22 Männer in kurzen Hosen einem Ball hinterherlaufen, wird zu einem penetranten, Dystopie-typischen Fetisch, der die Deutschen auch ein wenig stolzer machen soll, Deutsche zu sein. Selbst in Schlecker-Drogerien stehen jetzt Regale mit schwarz-rot-goldenem Fanzubehör. Dabei sind die nationalen Einheiten, die durch die Mannschaften beschworen werden, längst kein Abbild der sportlichen Realität mehr. Die stärksten Vereinsmannschaften der Welt setzen sich wie alle größeren modernen Firmen multinational zusammen.

Es trägt Züge der Gleichschaltung in einer bizarren Diktatur, dass jedem Kritiker des WM-Wahns unsachlich begegnet wird. Als die Stiftung Warentest die Sicherheit einiger WM-Stadien bemängelte, wurde ihr vom Organisationskomitee vorgeworfen, sie schade damit dem ganzen Land. Und OK-Chef Beckenbauer empfahl, sich lieber um „Gesichtscreme, Olivenöl und Staubsauger“ zu kümmern.

Seit die Medien vermehrt von den Machenschaften der Fifa berichten, dämmert manchem, was da Einzug halten wird. Zwar nimmt natürlich die ganz große Mehrheit das nahende restriktive Fifa-Regime in Kauf und fiebert der WM nichtsdestotrotz entgegen. Doch es ist mehr als verständlich, dass das Turnier jetzt schon von denen, die den Fußball lieben, sich in dessen Namen aber nicht die liberal-pluralistische Lebenswelt gleichschalten lassen wollen, weniger als Segen denn als Danaergeschenk des Franz Beckenbauer angesehen wird. Traurig, dass man sich als Fan des Fußballs weniger auf das WM-Eröffnungsspiel am 9. Juni denn auf den 9. Juli 2006 freuen muss, auf den Abpfiff des Finales, der dem Spuk für vier Jahre ein Ende macht.