Ausleuchten der Spielräume

VON CHRISTIAN SEMLER

In der verminten Geschichtslandschaft DDR sind Räumungsarbeiten im Gang. Die noch von Rot-Grün eingesetzte Expertenkommission zur DDR-Aufarbeitung hat ihre Empfehlungen fertig gestellt. Heftiger Streit ist vorprogrammiert: „Wir dürfen“, so die Kommission, „den erinnernden Umgang mit dem Leben in der Diktatur nicht der beschönigenden DDR-Nostalgie und den unkritischen Sammlungen zur DDR-Alltagskultur überlassen“. Will sagen: Bislang hat die DDR-Aufarbeitung einen Bogen um die Lebenswirklichkeit gemacht.

Für viele der einstigen Bürgerrechtler ist das ein unakzeptabler Vorwurf. Sie beklagen die systematische Verniedlichung der SED-Herrschaft im Zeichen einer angeblich authentischen DDR-Lebenswelt. Sie fürchten, das Urteil über die DDR als Unrechtsstaat könnte umgestoßen werden. Umgekehrt sehen viele Bürger der DDR ihre Lebenswirklichkeit im Begriff der „zweiten deutschen Diktatur“ verzerrt.

Die zweite Streitlinie verläuft zwischen der westlich dominierten Zeitgeschichtsschreibung und den östlichen Zeitzeugen. Hinzu tritt als allseits verschärfendes Element die Konkurrenz um die zukünftige Verteilung knapper Mittel an die Institutionen und Gedächtnisorte, die die DDR-Geschichte behandeln.

Die im Mai 2005 eingesetzte Kommission sollte so etwas wie ein Konzept für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund erarbeiten. An dieser Kommission nahmen Zeithistoriker, Museumsleute, Pädagogen und Bürgerrechtler teil. Am Montag werden die Kommissionsempfehlungen öffentlich präsentiert.

Dass es überhaupt zu gemeinsamen Vorschlägen gekommen ist (nur die Bürgerrechtlerin Freya Klier formulierte ein ablehnendes Sondervotum), ist angesichts der schroff differierenden Interessen- und Gemütslagen der Beteiligten keineswegs selbstverständlich. Das Unternehmen stand mehrfach auf des Messers Schneide. Dass es dennoch gelang, ist sicher der Bereitschaft der Kommission zuzuschreiben, offen über Defizite zu reden, das wachsende Desinteresse an der DDR-Geschichte ebenso zu konstatieren wie Tendenzen zum Geschichtsrevisionismus, die die DDR verklären. Der Text trägt allenthalben Spuren des Kompromisses zwischen einer historisch distanzierten und einer emotional geprägten Haltung, zwischen Professionalität und Engagement.

Ein wesentlicher Mangel der bisherigen Gedenkkultur, so die Kommission, ist, dass die Unterdrückungsapparate des DDR-Regimes zu sehr im Vordergrund standen – während der Alltag der herrschaftsunterworfenen Bevölkerung im Dunkeln blieb. Diese Konzentration auf die Repression, so die Kommission, hätte verhindert, dass die alltägliche Funktionsweise des Regimes analysiert und die realen Möglichkeiten des Einzelnen, also seine Spielräume, ausgeleuchtet worden wären. Das Ministerium für Staatssicherheit war eben nicht die Schaltzentrale des SED-Staats, ebenso wenig wie die Existenz der Mauer allein die Lebensweise der DDR-Bürger erklärt.

Praktisch schlägt die Kommission vor, die zukünftige öffentliche Arbeit zur DDR-Geschichte um drei große Komplexe zu gruppieren. Der Themenbereich Herrschaft/Gesellschaft/Widerstand soll die Bundesstiftung „Aufarbeitung“ und das Leipziger, dem Widerstand der DDR-Bevölkerung gewidmete Institut zum Kern haben. Beide Institute sollen in Berlin ein „Forum Aufarbeitung“ gründen. Vor allem dieses Forum soll der Ort für eine thematische Erweiterung und Vertiefung der DDR-Geschichtsbehandlung sein.

Der zweite Schwerpunkt betrifft den Komplex „Überwachung und Verfolgung“. Hier soll ein Dokumentationszentrum „Diktatur und Geheimpolizei“ entstehen. Wenn die Birthler-Behörde ihre Gründungsaufgabe erledigt hat, sollen ihre Forschungskapazitäten hier eingebracht werden – natürlich in „abgespeckter“ Form. Dem Komplex „Überwachung und Verfolgung“ sollen sowohl die Gedenkstätten beim Stasigefängnis Hohenschönhausen als auch das Stasihauptquartier in der Normannenstraße zugeordnet werden.

Der dritte Aufarbeitungsschwerpunkt „Teilung und Grenze“ soll die verschiedenen Mauer- und Grenzmuseen aufeinander beziehen.

Damit ist die Kommission sichtlich bemüht, die Autonomie der einzelnen Gedenkstätten, Orte und Institutionen zu achten. Von Zentralisierungsbestrebungen keine Spur. Der in der Welt vorab geäußerte Verdacht, hier werde nach Art der DDR an einem zentralen Aufarbeitungskombinat gebastelt, ist somit der üblichen Verleumdungsstrategie zuzurechnen. Diese „Empfehlungen“ stellen in ihrer umsichtigen Vorgehensweise vielmehr einen Versuch dar, die DDR auch einer Generation zu erschließen, die über keine persönlichen Erfahrungen mehr mit ihr verfügt.