„Der Mensch ist sehr gefährlich“

Die Kriege der Menschen und die Verantwortung des Tänzers: Der Choreograf William Forsythe über seine jüngsten Stücke, seine Wurzeln im Ballett und Rock ’n’ Roll, über Unterstützung aus der Business-Welt und sein neues Publikum in Dresden. Jetzt ist er zum Theatertreffen in Berlin eingeladen

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Herr Forsythe, in „Three Atmospheric Studies“, dem Stück, mit dem Sie zum Theatertreffen eingeladen sind, bezieht sich ein Teil auf eine Kreuzigungsszene von Lukas Cranach. Wie sind Sie darauf gekommen?

William Forsythe: Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo mir das Bild zuerst begegnet ist. Die Szene „Klage am Kreuz“ hat mich beeindruckt, aber ich habe es nicht sakral verstanden. Ich sah vielmehr eine Mutter, vor 2.000 Jahren, im mittleren Osten, deren Sohn gerade hingerichtet wurde – und das ist eine sehr gegenwärtige Situation. Besonders hat mich interessiert, dass im Bild selbst mehrere historische Epochen, die biblische Zeit und Cranachs Zeit, und unterschiedliche Augenblicke der Kreuzigungsszene nebeneinander existieren. Mit dieser Form, ein Ereignis aus unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven zu schildern, habe ich in der Choreografie gearbeitet.

Jeder Teil der Choreografie beinhaltet auch eine Umdeutung des bisher Gesehenen, als ob es keine eindeutigen Wahrheiten mehr gäbe.

Ja, das hängt mit den verschiedenen Erzählweisen zusammen. Die Mutter versucht sich selbst in den Kompositionen einzuordnen. In der ersten Komposition weiß sie genau, wer sie ist, die Mutter, deren Sohn verhaftet wurde. Im zweiten Teil behauptet sie das noch immer, aber ihr wird widersprochen. Sie ist jetzt die Mutter eines Sohnes, der ermordet wurde durch einen Polizisten, der sich von ihm angegriffen fühlte. Den Tumult voller Missverständnisse, in dem dies alles geschah, habe ich im ersten Teil choreografiert: Er ereignet sich wieder und wieder, aber von verschiedenen Zeitpunkten aus gesehen.

Im dritten Teil rückt das Stück enger an die aktuelle politische Situation heran. Es kommt eine andere Sprache hinzu, eine Kritik an der Rhetorik, mit der Krieg legitimiert wird. Ist dies auch aus einem Bedürfnis entstanden, als Amerikaner Position zur amerikanischen Politik zu beziehen.

Also, ich bin Amerikaner, ich habe einen amerikanischen Pass, auch wenn ich hier seit 33 Jahren lebe. Ich darf etwas sagen, als Bürger. Ich habe keinen Zugang zu Zeitungen oder Journalismus, also sage ich es in meinem Medium, dem Tanz.

„Three Atmospheric Studies“ ist nicht ihr erstes Stück, das von einem zweidimensionalen Bild ausgeht. In der Performance-Installation „You made me a monster“, die zurzeit in der Pinakothek München zu sehen ist, werden Schattenrisse von Skulpturen nachgezeichnet und in Bewegung übersetzt.

Das ist eine Partitur und ganz anders gedacht. In „You made me a monster“ findet eine Reihe von Übersetzungen statt. Zuerst wird der menschliche Körper übersetzt in ein Modell aus Pappe, flachen Blättern, die dann dreidimensional gefaltet werden und Schatten werfen. Die werden von den Tänzern abgelesen und das wird wieder ins dreidimensionale übersetzt.

Woher kommt das Interesse am Durchgang durch die Zweidimensionalität? Ist das eine Form der Konzentration?

Es ist eher wie ein architektonischer Plan. Man geht von der Behauptung aus, dass ein Gebäude entstehen kann. Eine Partitur, auch für Musik, beinhaltet auch immer die Behauptung, das irgendwas entstehen kann.

Die Forsythe Company ist eine der wenigen, bei der sich der zeitgenössische Tanz aus dem Ballett entwickelt hat und eine Trennung zwischen Ballett und Moderne keinen Sinn macht. Warum gelingt das so selten?

Das liegt an der Annäherung an das Material. Ich bin eher analytisch als kritisch. Ich habe das Ballett nie kritisiert: Ich fand es viel nützlicher, es zu analysieren und zu fragen, was ist es eigentlich. Wenn man gewisse Prozesse und eine gewisse Mechanik versteht, lässt sich das Ganze aufbrechen, und man erhält ein großes Feld von Möglichkeiten. Aber man kann auch fragen, machen wir überhaupt noch Ballett? Früher war ich mehr darauf konzentriert, heute nennen wir es einfach Tanz, aber wer weiß, vielleicht wird es irgendwann wieder Ballett.

Ein Schritt, mit dem ihre Company die hierarchisch geordneten Strukturen des Balletts schon stark verlässt, ist, dass sie nicht mit der Gegenüberstellung von Solisten und Corps de ballet arbeiten.

Ich habe nur Solisten und jeder trägt eine große Verantwortung. Oft sind es auch Mitautoren. Und unsere Tänzer können alles, sie spielen Theater, singen, tanzen. In New York haben wir gerade „Kammer, Kammer“ gezeigt, und alle wollten wissen, wo die Schauspieler herkommen – das waren Tänzer meiner Company. Mit einigen arbeite ich schon 10, 12, 20 Jahre zusammen.

Auffallend ist die ungewöhnliche Arbeit mit der Sprache und der Stimme, die eine sehr fremde Beweglichkeit erhält. Es entsteht dadurch ein sehr starker Eindruck vom Kampf um die Artikulation. Wie erreicht man so eine Lautmalerei?

Mit der Stimme arbeite ich seit 1976. Diese neue Stimmarbeit ist durch eine Software möglich geworden, wo der Computer auf bestimmte Geräusche und Laute reagiert und sie weiter formt. Das kam zur richtigen Zeit. Für uns ist damit die künstlerische Autonomie gewachsen, die jeder Tänzer für seine eigene Rolle übernimmt. Sie sind nun selbst für ihre akustische, musikalische Begleitung verantwortlich. Im dritten Teil von „Three Atmospheric Studies“ erzeugen sie damit eine gefährlich akustische Szenerie, man glaubt, den Krieg zu hören. Da fängt ein Junge diesen Krieg an mit seiner Stimme, er hat das Mikrofon wie eine Waffe in der Hand …

und er hört sich an wie ein wildes Tier.

Ja, denn der Mensch ist sehr gefährlich.

Sie gehören zum Beirat eines neuen hochschulübergreifenden Ausbildungszentrums, das für den Tanz in Berlin gegründet wird. Was ist wichtig, jungen Choreografen und Tänzern auf den Weg zu geben?

Sich so vielen Erfahrungen wie möglich auszusetzen: in den verschiedensten Stilrichtungen im Tanz, in Philosophie, Politik und Mathematik, Architektur. Und im Club tanzen zu gehen, das würde ich den jungen Tänzern in Berlin empfehlen. Da gibt es ganz tolle Tänzer. Wenn klassische Tänzer meinen, dass sie schon gut sind, sollen sie ruhig schauen, wer da tanzt und wie und darüber nachdenken.

Sie selbst sind in den USA mit dem Rock ’n’ Roll der 50er- und 60er-Jahre aufgewachsen.

Absolut. Das ist mein wirklicher Hintergrund. Dazu habe ich ohne Ende in der Küche getanzt und für mich selbst choreografiert. Das ist meine wahre Wurzel – und ich tanze immer noch in der Küche.

Tanz ist für die Kulturpolitik in Deutschland noch eine zarte und junge Pflanze. Glauben Sie, dass sich zurzeit die Situation für den Tanz verbessert?

Das kann ich nicht beurteilen.

Sie sind für die Tanzszene in Deutschland ein Hoffnungsträger. Wie Sie Ihre eigene Compagnie, nachdem das Frankfurter Ballett von der Stadt über die Kante geschoben worden war, finanziell und strukturell auf neue Füße gestellt haben, in der Kooperation von Frankfurt und Dresden, und zwei Ländern, Hessen und Sachsen, wird als Modell hochgehalten: Seht, so kann es gehen.

Das hat funktioniert, weil wir mächtige Freunde in einflussreichen Positionen haben. Das waren Bürger aus Frankfurt, Stammbesucher unserer Aufführungen; ich wusste lange nicht, dass darunter auch Leiter großer Banken sind, die mit ihren Kunden zu uns kommen. Die haben sich für uns und dieses neue Modell eingesetzt – die Frankfurter Business-Community hat uns eigentlich gerettet. Die haben sich auch für andere Kunstformen eingesetzt, zum Beispiel für den Portikus in Frankfurt. Die Stadt braucht dieses Feedback, die Politiker allein sehen das nicht. Und durch einen ehemaligen Frankfurter Bürger, Herrn von Löffelholz, ist auch die Verbindung mit Dresden und zum Festspielhaus Hellerau entstanden.

Ist es schwer, sich dort ein neues Publikum zu erschließen?

Die kulturelle Landschaft von Dresden ist ganz anders als von Frankfurt, das finde ich eine sehr schöne Herausforderung. Die Leute sind supernett und sehr bemüht um Verständnis. Ihre große Gesprächsbereitschaft, vielleicht ist das eine sehr dresdnerische Eigenschaft, freut mich. Nach den Aufführungen, die wir bisher im Schauspielhaus Dresden gezeigt haben, haben wir fast jedes Mal über eine Stunde mit dem Publikum geredet. Sie waren so interessiert, haben auch untereinander diskutiert, wunderbare Fragen gestellt.

Der Umbau des Festspielhauses in Hellerau hat den Start dort sehr verzögert.

Ja, der Umbau war sehr kompliziert. Jetzt können wir im September beginnen und fangen an mit dem Stück „Human Writes“, das wir bisher erst einmal in Zürich präsentiert haben. Es passt zum Raum, den ich nicht wie eine klassische Guckkastenbühne nutzen will. Das Publikum soll sich selbst auch als Teilnehmer in dem Raum erfahren können.

In „Human Writes“ geht es um Artikel der Menschenrechte und konkret um das Schreiben davon. Ist das Schreiben für Sie schon eine tänzerische Bewegung?

Nein, die Schrift entsteht in diesem Stück eher aus einem Akt der körperlichen Verhinderung. Alles Schreiben in diesem Stück wird erschwert, muss sich gegen Hindernisse durchsetzen. Das ist eine Metapher dafür, dass die Wahrung der Menschenrechte weltweit fast unmöglich ist. Die universale Geltung, wie sie die UN vertritt, ist leider zu einer Ironie geworden, die Wirklichkeit ist weit entfernt davon.