Gebaute Revolution

Das Künstlerpaar Bitter/Weber zeigt in der Galerie Plattform, wie sich in Venezuelas Hauptstadt Caracas durch mehr Basisdemokratie auch der urbane Raum verändert hat

Auf der anderen Seite der Karl-Liebknecht-Straße steht ein Billboard, dessen Oberfläche in einem monochromen, weißgrauen Ton gehalten ist. Wenn man die Straße überquert, sieht man die Konturen einer Stadtlandschaft. Pixelig-pointillistisch nimmt sie Gestalt an: Hochhäuser, Verkehrswege etc. Im Hintergrund sind Berge zu sehen. Für den Blick aus wenigen Zentimetern Entfernung wird wiederum erkennbar, dass dieses Billboard-Bild zusammengesetzt ist aus unzähligen schwarzen Strichen – ein Computercode, der Symbole wie @-Zeichen enthält, aber auch zu Wörtern zusammengesetzte Buchstaben: trabajo, instrumento, conocimiento.

Nur wer seinen Weg in die nahe gelegene Galerie Plattform findet, erfährt, dass es sich bei dem Text um die Verfassung von Venezuela handelt und dass das Billboard eine Arbeit des österreichischen Künstlerpaars Bitter/Weber ist. Sie heißt „Caracas, Hecho en Venezuela“ (Caracas, Made in Venezuela) und lässt ein für seinen basisdemokratischen Ansatz beispielhaftes Wohnungsbauprojekt der venezolanischen Hauptstadt mit dem Text der Verfassung des Landes verschmelzen. Das in letzter Zeit vielbeschworene „Staaten bauen“ (Fukuyama) wird hier auf überraschende Weise in ein assoziationsreiches Bezugssystem gesetzt. Architektur und Urbanistik erscheinen dabei nicht nur als Metaphern, sondern auch als Kategorien des Politischen: Partizipative Demokratie, so ein zentraler Slogan der Chávez-Regierung, bedeutet zugleich partizipative Architektur und auf Teilnahme beruhende Urbanistik.

Im länglichen Raum der Galerie hängen gleich links Digitaldrucke mit Motiven der „Super Citizens“-Serie: Caracas, Los Angeles, Vancouver, Wien. Die Städte werden ausschnittsweise ins Bild gerückt, nur mit einigen schwarzen Linien werden Gebäude, Plätze und Parks auf weißem Fotopapier angedeutet, abstrahiert; mobilisierte Menschenmassen strömen in Fotocollage-Ästhetik durch diese Räume, tragen Transparente, schwenken Fahnen. Die verbleibende Wandfläche ist wiederum mit Farbfotos von Bitter/Weber gefüllt. Sie zeigen Baukörper, Architekturdetails und Siedlungsformen als Stadtlandschaften, entstanden in Südamerika. Rechts in der Ecke läuft ein Video aus Interviews mit Bewohnern, die über ihren Alltag Auskunft geben und darüber, wie sie aus den Bahnen der sozialen Benachteiligung auszubrechen versuchen.

Die Verweise auf L. A., Vancouver, Wien oder Rio de Janeiro wirken hier wie Zusatzmaterial, um Caracas auszuleuchten. Zugleich ist die venezolanische Hauptstadt das häufigste Motiv: Hugo Chávez hat Caracas durch seine polarisierende Politik in letzter Zeit immer wieder ins Gespräch gebracht, es gibt wohl kaum eine andere lateinamerikanische Metropole, die so viel von sich reden machten würde. Die seit 1998 verfolgte Politik des parteilosen Präsidenten hat auch viele europäische Intellektuelle zu Anhängern gemacht. Sie registrieren dort eine beispiellose Veränderung, zwischen Graswurzelbewegung und Großbühnen-Partizipation. Diese Entwicklung geht einher mit einem regen Medieninteresse und einer Publikationsflut des Wissenschaftsbetriebs. In den letzten Jahren gab es eine Vielzahl von Büchern mit Titeln wie „Under Attack: Morning Dawn in Venezuela“.

Doch die von Bitter/Weber vorgelegte Studie zeigt, dass aus der Sicht des Künstlers über das Phänomen noch einiges gesagt werden kann. So eröffnen die Bilder vom Ölreichtum der 1970er-Jahre – damals galt das Land noch als Saudi-Arabien der Karibik – ungewöhnliche Ansichten auf eine andernorts vielfach dokumentierte Epoche der Urbanistik. Selten hat utopisches Bauen so exotisch ausgesehen, selten war es so sehr durch soziale Gegensätze geprägt. Bitter/Weber haben die bisweilen verwegen anmutenden Baukörper im Verfallszustand festgehalten. Und somit Momente eingefroren, in denen etwas Neues unter der Oberfläche der morbiden Fassaden hervorzukommen scheint. Das Ruinöse hat in dieser exotischen Pracht schon etwas Ungesehenes an sich. Aber es ist vermutlich genauso die in Aussicht gestellte Aneignung dieser Lebensräume, die den Sujets den Anschein des Neuen und damit des Zukünftigen verleiht.

KRYSTIAN WOZNICKI

Bis 11. 6., Mi. bis Fr. 14–19 Uhr (und nach Vereinbarung: Tel. 28 04 69 73), Galerie Plattform, Weydingerstraße 20