Onkel Kurt erzählt

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Also, hebt der bärtige Mann hinter dem Mikrofon zu seiner sozialdemokratischen Märchenstunde an, es gab einmal ein Land, das lag vielleicht nicht hinter den sieben Bergen, aber tief in der westdeutschen Provinz, in ihm gab es Volksschulen, wo vier Klassen in einem Raum unterrichtet wurden, von nur einer einzigen Lehrerin, und manchmal verdiente ein junger Mann mit seiner Hände Arbeit so wenig, dass er davon seine kleine Familie kaum ernähren konnte, und in diesem Land ist der junge Kurt Beck zuerst in die katholische Arbeiterjugend eingetreten und später dann in die SPD, in die Partei Willy Brandts, die voller Pathos behauptete, sie sei links und frei, und dann …

Ja, und dann schaut Kurt Beck in die Gesichter der knapp 500 Delegierten im modernen Berliner Hotel Estrel. Die sozialdemokratischen Funktionäre machen einen fröhlichen Eindruck, wie da vorn auf der Bühne einer der Ihren steht, ein Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, und jetzt erklärt, warum er stolz darauf ist, heute zum Vorsitzenden dieser ältesten aller deutschen Parteien gewählt zu werden. Kurt Beck fühlt sich zu Hause, auch wenn er einräumen muss, dass Rheinland-Pfalz, seine Heimat, nicht Deutschland sei, aber das hier in diesem Saal ist auf jeden Fall seine SPD, freundlich und solidarisch und immer darauf bedacht, dass die Welt so bleibt, wie sie vor 30 Jahren einmal war: schön, gerecht, sozialdemokratisch. Alles klatscht.

Also macht Beck einfach weiter mit seinen Weinberggeschichtchen, schließlich ist Mainz doch irgendwie überall, und so erzählt er, wie er sich mit seinem 84-jährigen Vater beraten habe, ob er den SPD-Vorsitz übernehmen solle, und der Vater, sein ganzes Leben hindurch Maurer, geantwortet habe: „Junge, das ist eine große Baustelle.“ Ja, und diese große Baustelle SPD übernimmt an diesem Sonntag Kurt Beck, 57 Jahre alt, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, ein Kümmerer, bodenständig und heimatverbunden. Nach dem Rücktritt von Matthias Platzeck im April hatte die Sozialdemokratie keine andere Wahl als ihn. Und so, wie vor ein paar Monaten alle ganz irre auf einen Platzeck-Effekt gehofft hatten, so hoffen sie heute auf den Beck-Effekt: Immer schön auf dem Boden bleiben und trotzdem hoch hinaus gelangen.

Zumindest die geistig einigermaßen anspruchsvollen Genossen merken an diesem Tag, was sie an ihrem neuen Parteichef auf keinen Fall haben: Einen Redner, der die radikalen Umbrüche dieser Republik erklären und eine Vorstellung davon vermitteln kann, was in diesen harten Zeiten noch sozialdemokratische Politik ist. Onkel Kurt plaudert sich durch die ganze Themenpalette des politischen Durchschnittshorizonts und sagt lauter Sätze, die man in dem Moment, da sie ausgesprochen werden, auch schon wieder vergessen hat. In Erinnerung bleibt lediglich, dass der Koalitionsvertrag gut sei, weil er eine sozialdemokratische Handschrift trage, und die Partei es ansonsten nicht zulassen werde, dass die Gesellschaft auseinander drifte in Erfolgsverwöhnte und Chancenlose – als sei dies nicht schon längst geschehen und genau das ein sozialdemokratisches Grundproblem: Dass die SPD die neuen, tiefen sozialen Spaltungen in Arm und Reich, in Drinnen und Draußen einfach nicht zur Kenntnis nimmt.

Matthias Platzeck, der scheidende Vorsitzende, hat in seiner Abschiedsrede eine halbe Stunde zuvor diese Umbrüche mit wenigen Worten einprägsam beschrieben. Genau diese Fähigkeit zur emphatischen Rede hatten die Delegierten auf ihrem letzten Parteitag in Karlsruhe noch frenetisch beklatscht und Platzeck mit über 99 Prozent der Stimmen belohnt. Jetzt wählen sie eben Beck zum neuen Chef – mit 95 Prozent. Nur die wenigsten haben das Gefühl, dass sie Platzeck einmal bitter vermissen werden.