sozialkunde
: Trotzgesellschaft und Schweigebefehl: Warum die neuen Bundesländer es schwerer haben als der übrige Ex-Ostblock

Natürlich macht man mit, wo man kann. Man geht zur Wahl, sucht sich Arbeit. Aber wehe, etwas funktioniert nicht! Dann hat man es immer schon besser gewusst

Welche Gesellschaft entsteht in den deutschen Beitrittsländern, werde ich in diesen Tagen bei einer Diskussion in einem Goethe-Institut im durchaus sympathisierenden Ausland gefragt. Die Antwort fällt nicht leicht. Man würde gerne den Mantel des Schweigens ausbreiten und zum soziologischen Argument des Latenzschutzes greifen, um den Leuten in den neuen Ländern noch etwas mehr Zeit zu geben, mit einer Lage fertig zu werden, die angesichts der Dominanz Westdeutschlands paradoxerweise schwieriger ist als die Lage in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks, die nicht in der glücklichen Situation sind, in eine bereits funktionierende Demokratie und Marktwirtschaft aufgenommen zu werden.

Das Wort, das mir nach langem Zögern dann doch einfällt, um auf die gestellte Frage zu antworten, lautet „Trotzgesellschaft“. Denn das trifft die Sache. Der Vereinigungsprozess der deutschen Länder ist strukturell wie infrastrukturell vor allem eine Sache der Kommunikation, auf die wie selten der Ausspruch von Goethes Ottilie zutrifft, man merke die Absicht und sei verstimmt.

Ostdeutschlands Chance, die eigene Nachkriegsgeschichte auf Augenhöhe mit Westdeutschland in die Waagschale einer gemeinsamen Gestaltung des Einigungsprozesses zu werfen, war von Anfang an so gering, dass man schon deswegen mit einer langfristigen Verstimmung rechnen musste. Die Wende bewies ja nichts anderes als den Umstand, dass die DDR- Gesellschaft gescheitert war, also musste man im Westen auch nur mit denjenigen Ostdeutschen reden und rechnen, die genau dieser Meinung waren.

Alle anderen wurden einem „Schweigebefehl“ unterworfen, wie ihn sich der Verfassungsrechtler Carl Schmitt, der dieses Wort erfunden hat, nicht besser hätte ausdenken können. Es wurden ihnen die Ämter, die Betriebe, die Schulen und die Universitäten, die politischen Pläne, die wirtschaftlichen Märkte und die wissenschaftlichen Ideen genommen.

Die Einigung war eine Bereinigung, die einen merkwürdigen und politisch wie ökologisch irrigen, ja gefährlichen historischen Sonderweg abbrach, als lägen die Gründe dafür – das ist für mich der entscheidende Punkt – offen zu Tage. Denn wenn sie nicht offen zu Tage liegen, und wie könnten sie dies angesichts einer weltweit denkbar offenen Lage, hat man sich in Deutschland eine Diskussion erspart, die mit Sicherheit unendlich schwer nur hätte durchgeführt werden können, die aber nichtsdestotrotz erforderlich gewesen wäre und vermutlich immer noch erforderlich ist (auch wenn niemand mehr Lust auf sie hat).

Denn was tut eine Gesellschaft, die auf diese Art und Weise historisch ins Unrecht gesetzt wird? Sie reagiert trotzig und wartet ab. Sie reagiert nostalgisch auf sich selbst, um auf diese Art und Weise offener von sich Abschied nehmen zu können, als es Westdeutschland konzedierte; und sie sammelt Informationen, die es ihr erlauben, dieselben Zweifel, denen sie selbst unterworfen wurde, auch angesichts der gepriesenen Demokratie und Marktwirtschaft zu entwickeln.

Natürlich macht man mit, wo immer man kann. Man geht zur Wahl, man sucht sich Arbeit, man gründet Unternehmen, man geht zur Schule und zur Universität. Aber wehe, irgendetwas funktioniert nicht. Dann hat man es ja immer schon gewusst. Dieser Trotz und diese Resignation sind es, die meines Erachtens eines Latenzschutzes bedürfen, den ich hier verletze, um für ihn werben zu können. Denn wenn man aus der trotzigen Beobachtung einer unzureichenden Gesellschaft nicht ins Abwarten und in die kleinstteilige Bemühung um Besserung einsteigen kann, sondern zu irgendwie das Ganze fassenden Reaktionen gezwungen wird, fällt man politischen Kräften in den Schoß, die schon wissen, wie die bessere Gesellschaft aussieht, bereinigt um alle Elemente, die man als Störung ausmachen zu können glaubt.

Das Beste, was den Beitrittsländern in Deutschland widerfahren kann, ist deren Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die mindestens europäisch, wenn nicht als Weltgesellschaft verstanden wird. Denn genau da spielen sich die interessanten und wegweisenden Konflikte ab: Wie kommt man mit Tschechien, mit Polen, mit Russland, mit Ungarn, mit Rumänien, mit der Slowakei, mit der Ukraine, mit Weißrussland, mit Georgien und so weiter wieder ins Geschäft, also mit den Ländern, die einst Bestandteil jener Netzwerke waren, die Westdeutschland, wo es ihm passte, zu schnell als sozialistisch verdächtigte und konterkarierte? DIRK BAECKER