Man braucht sich ja gegenseitig

Mythos im Doppelpack: Wenn Westernhelden auf die RAF treffen, erfährt man dann Neues über die Genese der Gewalt? David Lindemanns in Stuttgart uraufgeführtes Stück „… Billy the Kid wird am Schluss erschossen“ sucht im Crossover Erhellung

Von CLAUDIA GASS

Nur der Aufdruck „Fallen Angel“ hinten auf Pat Garretts beigefarbenem Hemd, die Jeans und die Cowboystiefel erinnern an seine wilden Jahre, als er als Sheriff von Lincoln-County in eine Jagd auf den Revolverhelden Billy the Kid verwickelt war. In David Lindemanns Auftragsstück für die Rampe, das jetzt an dem Stuttgarter Kleintheater uraufgeführt worden ist, ist der legendäre Sheriff ein saturierter Beamter und staatstreuer Gesetzeshüter. Im siebten Stock von Fort Sumner beaufsichtigt Garrett vier gewaltbereite Staatsfeindinnen – eine Situation, die nicht zufällig an die RAF und den Hochsicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim denken lässt. Denn Lindemann verschneidet den Western-Mythos mit der Zeitgeschichte, die für den 1977 geborenen Autor jedoch ihrerseits bereits mythischen Charakter angenommen hat.

Auf die langen Titel ist eigentlich René Pollesch abonniert. Aber Lindemann, wie Pollesch in Berlin Volksbühnen-nah sozialisiert, kann diesbezüglich mithalten: „Wenn Sheriff Pat Garrett aus dem Fenster sieht, erblickt er eine blühende Zukunft. Billy the Kid wird am Schluss erschossen“ heißt sein Stück in voller Länge. Auch in der Inszenierung, die der Autor selbst besorgt hat, gemahnt manches an Pollesch – die wenn auch nicht ganz so exzessiv eingesetzte Geschwindigkeit eines monotonen Sprechens, das gelegentliche Flüstern und die Verquickung von gesellschaftspolitischen Analysen mit völlig absurd-überdrehten Dialogen und Situationen.

Das „Stammheim Spezial“ in der Rampe ist Teil einer Reihe, in der sich der Berliner Autor und Dramaturg der Volksbühne, mit der Genese und den Grundgegebenheiten des zivilen Rechtsstaats auseinander setzt. Der Rechtsstaat, so Lindemanns These, impliziert in einem unauflösbaren Widerspruch auch immer die Gewalt, die er bekämpfen will. Und der Autor schlägt, wie wohl auch bereits in den drei vorangegangen Stücken der Reihe, gedanklich den Bogen zum Western, um das zu verdeutlichen.

In „ … Billy the Kid wird am Schluss erschossen“ untersucht David Lindemann, was aus denen geworden ist, die sich mit dem Staat arrangiert und ihre Outlaw-Existenz domestiziert haben, wenn auch, wie Garrett, um den Preis, dass diese immer noch in ihnen gärt.

Wie in einem wüsten Comicstrip oder einem Crossover aus surrealem Splattermovie und ernsthaftem Politstück geht es auf der von Uta Kala sinnfällig mit Versatzstücken aus Westernambiente und Gefängnis ausgestatteten Bühne zu. Die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim ist lediglich auf einem Video-Monitor zu sehen. Pat Garrett (Georg Springer) schießt zum Auftakt auf Kartoffeln. Zeitgleich brechen seine politische Literatur wie auch Kinderbücher lesenden Gefangenen Theaterblut-beschmiert zusammen. Die vorgeblichen Freiheitskämpferinnen Betty-Sue (Petra Weimer), Chantal (Marianne Sonneck), Luna (Tuire Tuomisto) und Joy (Lucia Schlör) sind jedoch nur infantile Zicken, die mit dem Staatsdiener so perfide wie kleinlich um Privilegien während der Haft feilschen. Man hat sich sozusagen arrangiert, ja man scheint sich fast gegenseitig zu brauchen. Zugleich sitzen die Damen Garrett aber wie ein Stachel im Blut, weil sie ihn permanent an seine Bestechlichkeit, seinen Verrat an dem ehemaligen Freund und seine unterdrückte Sehnsucht nach einem wilden Leben, verkörpert in Billy the Kid, erinnern.

Die Zeitebenen, die Genres und die historischen Fakten werden in Lindemanns Stück heftig durcheinander gewirbelt und bis ins Absurde gehend verschnitten. Wenn der hysterisch-überdrehte Ton und das Rasen durch die Sätze, deren sich die Inszenierung bedient, es nicht so erschweren würden, könnte man die eigentlich interessanten und klugen Thesen und Gesellschaftsanalysen Lindemanns, die er zudem dramaturgisch geschickt aufbaut und mit spannenden Regieideen in Szene setzt, allerdings sicher besser nachvollziehen.

Wie leider oft in der zeitgenössischen deutschen Dramatik, wenn die Figuren als Träger einer Botschaft dienen, interessiert man sich auch hier nur bedingt für sie. Georg Springer als Garrett versteht es jedoch, für seine Figur eine in gewisser Weise anrührende Individualität zu erspielen. Die vier Frauenfiguren dagegen bleiben sehr stereotyp.

Insgesamt betrachtet hinterlässt die Uraufführung einen etwas zwiespältigen Eindruck: interessantes Stück, bedenkenswerte Thesen, allein die Botschaft geht im Slapstick und in der Überzeichnung unter.