Das unbeschriebene Blatt

Seit kurzem leitet Markus Spillmann die Redaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“ – eine Überraschung. Denn der 38-Jährige gilt als fleißig, pflichtbewusst – aber bislang profillos

AUS ZÜRICH CARLA PALM

Interviewanfragen wimmelt Markus Spillmann lieber ab. Das sei im Moment „terminlich leider unmöglich“, erklärt er kurz und knapp. Klingt nach Stress und Arbeit im Akkord. Aber vielleicht ist es auch einfach nur die Furcht vor der Öffentlichkeit. Der neue Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) ist noch nicht daran gewöhnt, Teil einer Nachricht zu sein. Der andernorts gepflegte Personenkult um Journalisten nannte er in einer Art Antrittsmanifest „schamlos“. Spillmanns Umgang mit den Medien sei „sympathisch ungeübt“, meint der Konkurrent TagesAnzeiger. Er antworte defensiv, wie ein Politiker. Dazu passt auch, dass Spillmann, der die NZZ seit 1. April leitet, in der Branche weitgehend als Terra incognita gilt – man ist gespannt, wann und wie sich sein Profil erstmalig zeigen wird.

Kollegen bezeichnen ihn als fleißig, pflichtbewusst und ein wenig spröde. Ein begnadeter Schreiber sei er nicht, sein Stil wirke manchmal bemüht. Die Genfer Tageszeitung Le Temps stichelt, die Anzugsakkos des 38-Jährigen seien so grau wie die Institution, für die er arbeite. Immerhin kitzelten die Journalisten aus ihm heraus, dass er gern Snowboard fährt und sich anstelle eines hippen iPods einen namenlosen MP3-Player gekauft habe. Spillmann ist die personifizierte NZZ: Jemand, der unaufgeregt daherkommt, nicht jede Mode mitmacht – aber den Nagel auf den Kopf trifft. Zuletzt zeigte er seine Fähigkeiten als Auslandschef der NZZ am Sonntag, die er vor vier Jahren mitentwickelte. Dort war er auch stellvertretender Redaktionsleiter und schrieb Kommentare über die Folgen von Hurrikan „Katrina“, über Korruption von UN-Beamten und den Ölhandel. Publizistisch folgt Spillmann dem NZZ-Kurs: freisinnig – obwohl er anders als seine Vorgänger kein FDP-Mitglied ist – wirtschaftsliberal und Amerika-freundlich.

Vor seiner journalistischen Karriere studierte Spillmann in Basel und Zürich Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Anschließend war er wissenschaftlicher Assistent an der Uni Zürich, jobbte bei einer PR-Agentur und einer Bank. Nach einem Praktikum beim Badener Tagblatt (heute Aargauer Zeitung) stand fest, dass er Journalist werden wolle. 1997 wechselte er zur NZZ. Beim Sonntagsblatt arbeitete er sich zwar zum Stellvertreter empor, trat aber nie aus dem mächtigen Schatten von Redaktionsleiter Felix E. Müller hervor.

Daher galt Spillmann während der Findungsphase um den Chefposten des NZZ-Hauptblattes nie als ernst zu nehmender Favorit. Als erklärte Aspiranten neben Müller galten Martin Breitenstein als Leiter der NZZ-Online-Redaktion, der Wirtschafts-Ressortleiter Gerhard Schwarz sowie Feuilleton-Edelfeder Martin Meyer. Als der NZZ-Verwaltungsrat im Dezember verkündete, dass der junge und wenig profilierte Spillmann die Nachfolge von Hugo Bütler antreten sollte, ging ein Raunen durch die Gänge in der Falkenstraße 11, wo die NZZ feudal residiert. Die ersten Reaktionen waren „verhalten positiv“, wie vereinzelt zu hören war. NZZ-Journalisten sind für ihre Diskretion in internen Angelegenheiten bekannt. Der Schweigekultur zum Trotz machte der Kampf um die Spitze deutlich, dass Bütler es in seinen 21 Jahren als Chefredakteur versäumt hatte, rechtzeitig einen Nachfolger großzuziehen. Ein Fehler, den viele Sonnenkönige begehen und später bereuen. Nun schmollen die Übergangenen. Martin Breitenstein wechselte als Politikchef und Mitglied der Chefredaktion zum Nachrichtenmagazin Facts.

Spillmann wandere durch vermintes Gelände und müsse versuchen, die einflussreichen Ressortleiter, die unter Bütler autonom regierten, auf eine gemeinsame Linie zu bringen, sagt ein Kenner der NZZ. Weil dies Fingerspitzengefühl erfordere, nehme sich der neue Chef heute wesentlich mehr Zeit für Sitzungen und Konferenzen als sein Vorgänger.

Doch nicht nur die hausinternen Grabenkämpfe nagen an der Zukunft des Weltblatts. Wie alle Presseprodukte kämpft auch die NZZ gegen schwindende Anzeigen und alternde Leser. Die verkaufte Auflage liegt bei rund 150.000 Exemplaren, Tendenz stagnierend. Die NZZ unter Bütler schrieb und lebte in einem hauptsächlich männlichen und stark politisch denkenden Mikrokosmos, der kaum offen für Neues war. Journalistische Moden wie Gratiszeitungen oder Blogging lässt das Haus konsequent an sich vorüberziehen und riskiert dabei, nachwachsende Leser zu verlieren. Erst in den letzten Monaten seiner Amtszeit wagte Bütler einen Relaunch und erlaubte Farbfotos auf der Titelseite sowie Grafiken in den hinteren Teilen. Eine Mini-Revolution, die das Blatt aber optisch immerhin auf das Layout-Niveau der Sechzigerjahre hievt. Für eine Wende auf dem Lesermarkt reicht das freilich nicht aus.

Auf Markus Spillmann wartet also viel Arbeit, die er nur mit umsichtigen Schritten erledigen kann. Will er zu viel, verprellt er die alte Garde in der Redaktion und viele Stammleser. Will er zu wenig, wird die NZZ an Bedeutung verlieren.