Amoklauf im Verwaltungsgericht

Bei einem Attentat in Ankara wird ein Richter getötet, vier werden schwer verletzt. Tatmotiv könnte die Weigerung des Gerichts sein, das Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen zu lockern. Opposition: Anschlag auf laizistische Grundlage des Staates

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Die Türkei hat gestern Mittag einen schweren Schock erlitten. Ein Attentäter war in das Oberste Verwaltungsgericht in Ankara eingedrungen, hatte eine Pistole gezückt und einen Richter damit getötet. Vier weitere Richter wurden schwer verletzt. Sämtliche Fernsehkanäle unterbrachen ihre Sendungen und schalteten live zum Tatort. Wenig später war der Hergang des Attentats in groben Zügen bekannt. Alparslan Aslan, ein 29-jähriger Anwalt aus Istanbul, war im Gericht erschienen und zum Beratungszimmer der 2. Kammer geeilt. Mit dem Ruf „Allahu Akbar“ zog er eine Pistole und schoss auf die anwesenden Richter. Zwei der höchsten türkischen Richter wurden lebensgefährlich verletzt, einer schwebt noch in Lebensgefahr.

Der Täter wurde im Gericht festgenommen und wird seitdem vernommen. Die 2. Kammer des Kassationsgerichts ist unter anderem zuständig für den Streit über das Kopftuch in staatlichen Einrichtungen. Erst im Februar hatte es die Kammer erneut strikt abgelehnt, das Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen zu lockern, und die Entlassung einer Lehrerin bestätigt, die immer erst vor Betreten ihrer Klasse das Kopftuch abgelegt hatte. Das war offenbar das Motiv für den Attentäter.

Während die Regierung zunächst schwieg, eilte Oppositionsführer Deniz Baykal sofort an den Tatort. Baykal verurteilte die Tat und sprach von einem Anschlag auf die laizistische Grundlage des Landes. „Die Situation ist sehr gefährlich“, sagte er, „wir müssen kühles Blut bewahren.“ Gut zwei Stunden später trat Ministerpräsident Erdogan mit dem auf Staatsbesuch in Ankara weilenden finnischen Premier vor die Presse. Erdogan verurteilte die Gewalttat, „egal welches Motiv dahintersteht“.

Genau das Motiv aber macht die Regierung verdächtig. Baykal griff Erdogan gestern heftig an, weil dieser das Kopftuchurteil des Gerichts im Februar scharf kritisiert hatte und deshalb an dem Attentat mitschuldig sei. Vorangegangen war eine Hetze der islamistischen Presse gegen das Kassationsgericht. Vakit, das Sprachrohr der Fundamentalisten, hatte die zuständigen Richter mit Foto und Namen präsentiert und zum Widerstand gegen die Justiz aufgerufen. Auf das Redaktionsgebäude der Tageszeitung Cumhuriyet, des führenden kemalistischen Blatts des Landes, wurden in den letzten zwei Wochen dreimal Handgranaten geschleudert, die niemanden verletzt hatten.

Das Attentat wird die Spannungen vor den Präsidentenwahlen verschärfen. Seit Wochen verschlechtert sich das Klima, weil die regierende islamisch geprägte AKP mit ihrer Parlamentsmehrheit im kommenden Frühjahr erstmals die Gelegenheit hat, einen Präsidenten aus ihrem Lager zu wählen – ein Horror für die Laizisten, weil die Religiösen dann alle hohen Exekutivämter kontrollieren würden.

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