Schnitzeljagd mit Jesus

Cannes Cannes (2): Oft dauert es zwei Jahre, bevor Festivalfilme in die Kinos kommen. Manchmal geht es aber auch schnell. So wie beim „Da Vinci Code“. Gestern eröffnete der Thriller die Filmfestspiele von Cannes, heute schon läuft er weltweit an

von CRISTINA NORD

Bevor ich nach Cannes fahre, sammele ich Codes. Um mich zu akkreditieren, erhalte ich eine neunstellige Kombination aus Buchstaben und Zahlen; um den Zeitplan der Pressevorführungen von der Internetseite des Festivals herunterzuladen, brauche ich ein Passwort; für das Diensthandy ist eine Geheimzahl nötig; für den Flug nach Nizza eine siebenstellige Kombination aus Ziffern und Buchstaben, nicht zu vergessen die Nummern von EC- und Kreditkarte. Die tippe ich manchmal in mein Mobiltelefon und wundere mich über die Folgen.

Als ich am Dienstagabend endlich in der Salle Débussy sitze und Ron Howards Film „The Da Vinci Code“ sehe, schaue ich Filmfiguren zu, die sich in der gleichen Situation befinden: Die Protagonisten, Professor Robert Langdon (Tom Hanks) und die Kryptologin Sophie Neuveu (Audrey Tautou) brauchen Passwörter, Zugangscodes und geheime Kombinationen aus Buchstaben und Zahlen, um sich wie bei einer Schnitzeljagd durch den Film zu bewegen. Aus einem scheinbar sinnlosen Text destillieren sie die Botschaft, indem sie die Buchstaben neu zusammensetzen; wenn sie vor dem Schließfach einer Bank stehen, haben sie zwar den Schlüssel, die Geheimnummer indes muss ihnen ein Zettel mit Zahlenkolonnen verraten, und vor allem haben sie es mit einem Gegenstand zu tun, der eine Papyrusrolle mit wichtiger Geheimbotschaft verbirgt; öffnen lässt er sich nur mit einem Passwort; wer versucht, das Ding ohne das Passwort zu knacken, nimmt in Kauf, dass der Papyrus zerstört wird. Die Kamera freilich braucht keine Codes, um Zugangsschranken zu überwinden. Sie dringt mühelos in Gegenstände hinein, fährt durch sie hindurch oder fliegt über sie hinweg, um das darunter liegende Geheimnis zu offenbaren.

„The Da Vinci Code“ eröffnete gestern Abend nicht nur die 59. Filmfestspiele von Cannes, der Film startet heute auch weltweit in den Kinos. Er beruht auf dem Bestseller von Dan Brown und entwickelt eine Verschwörungstheorie: Jesus war mit Maria Magdalena verheiratet, sie war schwanger, als er gekreuzigt wurde, es gibt mithin Nachkommen Jesu Christi, und um dies zu vertuschen, schrecken finstere Drahtzieher in der katholischen Kirche vor nichts zurück. Der Film macht daraus Unterhaltung für alle: für die Bildungsbürger, die sich im Kino ihrer Kenntnisse der Kunstgeschichte vergewissern, für die Liebhaber des Actionkinos, deren Puls höher schlägt, wenn ein Smart im Rückwärtsgang durch Pariser Straßen jagt, für Hobbyhistoriker, die sich freuen, wenn Tempelritter in körnigen Flashbacks gen Jerusalem reiten. Auch die, die immer schon glaubten, die katholische Kirche habe ein dunkles Geheimnis, sollen auf ihre Kosten kommen, ebenso wie die Freunde wahrnehmungstheoretischer Reflexionen, da „The Da Vinci Code“ die Frage, was man sieht und was man übersieht, wiederholt verhandelt.

Bei so vielen Ansprüchen besteht die Gefahr, dass die Details zu kurz kommen, und genau das ist der Fall in Ron Howards Film. „The Da Vinci Code“ verwendet viel Mühe darauf, mit spektakulären Kamerabewegungen zu protzen und die Schauplätze, den Louvre zum Beispiel oder einige Kirchen in Paris und England, in Szene zu setzen. Doch das Wesentliche, die Art und Weise, wie die Hauptfiguren Langdon und Neveu in die Verschwörung verwickelt sind, lässt eigentümlich kalt, nicht zuletzt, weil Ron Howard sich keine Zeit nimmt, dem Publikum die Werkzeuge zum Rätsellösen in die Hand zu geben; das bleibt jeweils Langdons Verstand und Neveus Intuition überlassen.

Nur einmal lässt sich ahnen, was das alles hätte werden können. Neveu und Langdon fliehen vor der Polizei zu einem alten Freund Langdons, dem verschrobenen Briten Teabing (Ian McKellen); er erklärt ihnen die Geschichte Maria Magdalenas, dass sie zu den Aposteln gehörte, dass sie mit Jesus verheiratet und schwanger war. Er nutzt dazu Ausschnitte aus Leonardo Da Vincis Gemälde „Das letzte Abendmahl“; er analysiert, wie Jesus und die Figur links von ihm sich zueinander verhalten, wie etwa die Farbgebung ihrer Gewänder spiegelbildlich angeordnet ist; er bezweifelt, dass dieser Apostel ein Mann sei. Schließlich erklärt Teabing den Zwischenraum zwischen den beiden Figuren: Der habe die Form eines V, und darin stecke des Rätsels Lösung. Das ist eine Form des close reading, die viel Vergnügen bereitet – unabhängig davon, ob sie zu einem richtigen Ergebnis führt. Denn die universal truth, von der Langdon am Anfang des Filmes einmal spricht, ist ja ohnehin nur eine fixe Idee, auch wenn „The Da Vinci Code“ das Gegenteil behauptet.