No, no, never?

Heute, 21 Uhr, live aus Athen: der 51. Eurovision Song Contest. Texas Lightning können nicht schlechter abschneiden als voriges Jahr Gracia. Sie könnten sogar gewinnen. Ein Blick auf die Konkurrenz

VON JAN FEDDERSEN& IVOR LYTTLE

Auf welchen Startplatz die zehn Qualifikanten gelost werden, war bis Redaktionsschluss offen. Bitte in der Halbfinalliste suchen – und selbst nachtragen! Hier die Liste des Finales. Votum für den schnellen Überblick? 1 Stern – unfassbar; 2 Sterne – lahm; 3 Sterne – okay; 4 Sterne – originell & charmant; 5 Sterne – magisch.

1. Schweiz. Six4One: If We All Give A Little. Ralph Siegel? Der Hehler ersticktester Ästhetik im eidgenössischen Schlagerasyl: sechs SängerInnen aus sechs Ländern. Musicalhymnenschwulst. *

2. Moldawien. Arsenium & Natalia Gordienko: Loca. Der Sänger, einst bei der populären Rockband O-Zone, wurde jüngst im Internet ruffördernd verdächtigt, gewisse Sexübungen zu mögen. Der Song: Peepshow-Sound. **

3. Israel. Eddie Butler: Ze hasman. War schon 1999 dabei – nun als Solist. Der dunkelhäutige Mann, Teil der Sekte der Urhebräer, gilt in seinem Land als Notlösung. *

4. Lettland. Cosmos: I Hear Your Heart. A-cappella-Truppe – nett nach der neunten Minute … In Athen haben sie nur drei Minuten. ***

5. Norwegen. Christine Gulbrandsen: Alvedansen. Keltisch war vor zehn Jahren! Elfengesumsel der depressiven Art. Ächz. *

6. Spanien. Las Ketchup: Bloody Mary. Wiederbelebungsversuch einer One-Hit-Wonder-Band. Die unwiderstehliche Nervtödlichkeit ihres Hits „Aserejé“ aus dem Jahre 2002 fehlt hier. *

7. Malta. Fabrizio Faniello: I Do. Vor fünf Jahren in Kopenhagen dabei, nun sieht er etwas männlicher aus. Trotzdem: Die Athener Trauben hängen für ihn zu hoch. **

8. Deutschland. Texas Lightning: No No Never. Ist kein Country. Amerikanisch erst recht nicht. Die Sängern trägt einen rosa Kunstpelz und singt wie auf Helium; die Herren tragen Anzüge wie für die Motto-Party „Red River“; noch nie hat ein Song mit Banjo gewonnen. Alles Extraklasse, künstlich, ergreifend. *****

9. Dänemark. Sidsel: Twist Of Love. Countryrock einer 17- Jährigen aus der Nähe von Århus. Ähnlichkeiten mit Dire Straits’ „Twisting by the Pool“? Hmmh. Runder Teenagerkram. Punkte aus Multikultikreisen? Unsicher. Dänisch zu sein ist (Mohammeds) rufschädigend. ****

10. Qualifikant.

11. Qualifikant.

12. Rumänien. Mihal Traistariu: Tornero. Der 26-Jährige mit der 5-Oktaven-Stimme trägt eine schwere Hypothek: Voriges Jahr belegte sein Land mit bleischwerem Perkussionsgedröhn den dritten Rang – das darf nicht schlechter werden, sonst holt man Ceaușescu wieder aus der Gruft! **

13. Qualifikant.

14. Qualifikant.

15. United Kingdom. Daz Sampson: Teenage Life. Kinder-Rap, Mischung aus Ray Stevens’ „Everything Is Beautiful“ und Pink Floyds „Another Brick In The Wall“. Munter, frisch, dieser Sänger von 31 Jahren, der einst einen hübschen Remix von Carl Douglas’ „Kung Fu Fighting“ produzierte. ****

16. Griechenland. Anna Vissi: Everything. Die älteste Sängerin des Abends, 48, war bereits zweimal (1980, 1982) beim Grand Prix dabei. Konservative fanden ihr Video zum Song nestbeschmutzend: zu lasziv und unzüchtig. La Vissi hat den Sinn von Schnulzen wie die ihrige verstanden: schleppende Hingabe als Kunstform. Erkenntnis: Schönheits-OPs lohnen sich! ****

17. Qualifikant.

18. Qualifikant.

19. Frankreich. Virginie Pouchin: Vous c’est nous. Das soll das multikulturelle Erbe der Grande Nation sein? Gegen ihr Lied nimmt sich ja selbst Françoise Hardys schleppendes „L’amour s’en va“ wie eine Highspeed-Offenbarung aus. Erschütternd. *

20. Kroatien. Severina: Moja stikia. Volksmusikkönigin ihres Landes, ehe jemand ein privates Video von ihr ins Internet stellte …, ihre unverhüllte Liebeskunst dokumentierend. Klasse balkanische Schunkelnummer. ***

21. Qualifikant.

22. Qualifikant

23. Qualifikant.

24. Qualifikant.

Das Halbfinale vom Donnerstag – 10 von 23 kamen durch. An welcher Position sie heute Abend an den Start gehen? Gibt Peter Urban in der ARD bekannt.

Votum? Wieder 1 bis 5 Sterne.

1. Armenien. Andre: Without Your Love. Sänger des Jahres im Kaukasus – Jüngelchen, das die Aufgabe, sein Land als Debütant in die Eurovisions-Szene einzuführen, mit viel tänzerischer Geschmeidigkeit erledigen möchte. **

2. Bulgarien. Mariana Popova: Let Me Cry. Volksmusik, Jazz, das Dasein als DJane … Sie kann alles. Allein: ein Krümel von Lied. **

3. Slowenien. Anzej Dezen: Mr. Nobody. Der will er nicht bleiben, klar. Das Publikum in seinem Land hätte sich ein anderes Lied in Athen gewünscht … aus gutem Grund. *

4. Andorra. Jennifer: Sense tu. Die Sängerin ward nach „Flashdance“-Ms.-Beals benannt. Und dann singt sie sowas Schwülstiges, die Frau, die Aretha Franklin als ihr Idol bezeichnet? **

5. Weißrussland. Polina Smolova: Mama. Eine Titelzeile, die einen Elternteil bezeichnet („Maman“, Monaco in den Sechzigern), hatte noch nie Erfolg. Und dann, politisch korrekt: Dieses Land hat keinen Punkt verdient – Lukaschenko steht dem im Wege. *

6. Albanien. Luiz Ejlli: Zjarr e ftohte. Die Skipetaren suchten einen Superstar – und wurden mit ihm fündig. Lyrisches Nichts, kompositionelle Hektik, nicht einmal die Fragilität eines Johnny Logan ist ihm eigen. *

7. Belgien. Kate Ryan: Je t’adore. 23 Jahre, Millionen von verkauften Tonträgern: Klingt viel versprechend. Flott, nicht zu komplex, ungefähr 70-mal der Ausruf, dass sie ihn begehrt. ***

8. Irland. Brian Kennedy: Every Song Is Cry For Love. Die singende Opferkarte. Im Nebenberuf Autor eines Buches über eine schlimme Kindheit in Belfast, vermutlich anders als die anderen Jungs, war 1995 beim Song Contest in Dublin Pausenfüller. Sein Lied? Eine Ballade ohne rechte Melodie. **

9. Zypern. Annette Artani: Why Angels Cry. Dolly-Parton-Figur, New Yorkerin im echten Leben, sang & schrieb für Britney Spears und demonstriert auf der Bühne mit einem melodramatischen Lied, leider, dass manche Schönheitschirurgie dann doch nicht hilft. **

10. Monaco. Séverine Ferrer: La coco-dance. Sieht jugendschutzbedürftig aus, ist aber schon 28. Geboren in La Réunion, wie der Ire Romanautorin – und versucht, das Fürstentum erstmals seit seiner Grand-Prix-Renaissance ins Finale zu performen. Pourquoi-pas? ***

11. Mazedonien. Elena Risteska: Ninanajna. In Skopje wird sie als Musterpopsängerin verehrt. Aber dieses Lied ist selbst für balkanische Verhältnisse eine Spur zu öde: unentschiedener Mist (weder Pop noch Camp). **

12. Polen. Ich Troje: Follow My Heart. Eigentlich hatte die Gruppe sich schon aufgelöst – nach ihrem Grand-Prix-Auftritt 2002 in Tallinn. Haben sich’s anders überlegt: Weil es den Song Contest gibt. Allein: Jeder Anruf für Polen wäre eine Stimme für katholischen Fundamentalismus! *

13. Russland. Dima Bilan: Never Let You Go. Hübscher junger Mann, der offenbar sehr oft im Sportstudio war – und leider nicht die mimische Präsenz eines Ricky Martin mitbringt. Sein Lied ist ein Überbrücker bis zur nächsten Startnummer. **

14. Türkei. Sibel Tüzün: Super Star. Nach der Babypause wieder auf die Bühne – für die türkische Performerin, die als Hobby Rallyefahren angibt, ein gutes Mutterschaftsprogramm. Leider ist ihr Lied das schlechteste türkische Lied seit ungefähr 30 Jahren – hysterisches Gegröle in falschen Tonlagen. Darf aber auf migrantische Stimme hoffen. *

15. Ukraine. Tina Karol: Show me your love. Freunde hoffen, dass sie ihre Frisur bis zum Auftritt noch ein wenig vom Bürgerschrecklook befreit hat. Immerhin kann sie singen und tanzen – und auf landestypische Art auch gucken. Hoher Vergesslichkeitswert. **

16. Finnland. Lordi: Hard Rock Hallelujah. Aus dem Land des Tangos, Kaurismäkis und der Sauna ein wenig Metal Rock. Die Konservativen sind erbost, dass diese Gothic-Macker in Athen zeigen, was Finnland auch ist: ein rätselhaftes Stück Welt. ***

17. Niederlande. Treble: Amambanda. Straßenmusikerinnen, die seit Wochen durch Fußgängerzonen tingeln, um für diesen Abend eine gewisse Fanbase zu schaffen. Ihr Text ist in einer frei erfundenen Sprache gehalten – dass sie nach Mediterranem klingt, ist beabsichtigt. Vergänglich! **

18. Litauen. LT United: We Are The Winners. Beliebteste Gruppe des Landes – die sich weigert, irgendeine Promotion vor dem Auftritt zu machen. Einfach nur auftreten und gewinnen. Der Songtitel lässt vermuten: Hochmut kommt vor der Blamage. **

19. Portugal. Nonstop: Coisas de nada. Die lusitanische Fassung der Spice Girls – die in ihrem Athener Versuch nach Abba klingt und leider nicht nach Dulce Pontes oder Anabela, würdigere Vertreterinnen ihres Landes. Nicht schon wieder Letzte, so ihr Motto. Doch! *

20. Schweden. Carola: Invincible. Die Siegerin von 1991 (und Dritte von 1983) dachte nach dem Vorentscheid, der Grand Prix fände in Prag statt und außerdem sei sie gleich im Finale. Irrtum. Dafür kennt sie als Frontfrau einer schrecklichen Christensekte die Bibel besser. Singt wie einst mit Windmaschine. Sie wird sich vor ihrem Herrn rechtfertigen müssen. ***

21. Estland. Sandra Oxenryd: Through My Window. Schwedin in Diensten des Baltikums: Ihr Lied changiert zwischen Guten-Morgen-Aufwachsound und Fahrstuhlmucke. ***

22. Bosnien und Herzegowina. Hari Mata Hari: Lejla. Der Komponist dieses Liedleins ist derselbe, der 2004 für Serbien und Montenegro tätig war. „Lane moje“ wurde Zweiter. Entsprechend klingt dieser Beitrag: Im depressiven World-Music-Style gehalten, ein Mädchen ersehnend, dazu Flöten und ein schluchzendes Finale. Schick! ****

23. Island. Silvia Night: Congratulations. Heißt eigentlich Eva Eriendsdóttir, ist 22 Jahre jung, hat eine Menge Flausen im Kopf, wollte ein Star werden – aber sie war zu lieb. Also erfand sie sich neu: als Bitch mit unstillbarem Ego und Neigung zum Trash. Jetzt ist sie Kult in Reykjavík. Ihr Lied, als sei’s von Cyndi Lauper, reißt mit. ****

JAN FEDDERSEN, 48, ist taz.mag-Redakteur, IVOR LYTTLE, 45, Herausgeber des Grand-Prix-Fanzines Euro Song News. Beide mögen Künstliches, auch Country. Ihre Prognosen lagen in den vorigen Jahren meist falsch