Schlagerkillendes Monster

Der klassische Schlager ist tot, nie mehr Rüschen, lange Abendkleider und schwülstiges Herzeleid: Beim Eurovision Song Contest in Athen siegte Finnlands Hard-Rock-Band Lordi mit „Hard Rock Hallelujah“. Texas Lightning landete auf dem 15. Platz

VON JAN FEDDERSEN

War ja nicht so, dass alle Finnen ihnen die Daumen gedrückt hätten. Die halbe Nation zwischen Helsinki und Rovaniemi am Polarkreis lechzte zwar danach, beim Eurovisionswettbewerb mal besser als mit einem sechsten Platz abzuschneiden, aber doch nicht mit diesen Monstern. Bloß nicht Letzter werden, wie so oft – das wenigstens einte das Land. Aber Lordi waren so umstritten wie einst Guildo Horn es war. Schande für das Land, ästhetisch vor allem. Man hat doch den Tango, den Schlager, ruhiges, gediegenes Liedgut mit unauffälligen Harmonien. Lordi – das ist kein Wohlklang, sondern irgendwie die gleiche Abteilung wie Kaurismäki im Filmgeschäft: Nestbeschmutzer der reinen finnischen Seele.

Noch vorgestern spekulierten Medien in Helsinki, dass Lordi der Blitz treffen würde, weil so etwas wie ein Gott ihn strafe, ja, gar keine Wahl habe. Seltsame Aufregung: Die Band hatte doch am 10. März in Turku die Vorentscheidung gewonnen – wenngleich gegen die Meinungen des konservativen wie linksliberalen Mainstreams in Zeitungen, Radiostationen und Fernsehanstalten. Eine Stunde nach Mitternacht griechischer Zeit wird ihnen fast alles verziehen: Lordi, ein charmant-hässliches Monster wie aus der Muppet-Show, ein Erbe Meat Loafs wie der Band Queen, siegte haushoch beim Eurovision Song Contest. Finnland ist nun von dem Fluch, von Europa musikalisch nicht verstanden zu werden, befreit. Und Europa gab per Televoting das Zeichen, dass es den klassischen Abendkleidschlager, die Lieder der verrüschten Troubadoure und Niedlichkeiten (auch und vor allem deutscher Provenienz) gar nicht goutiert. Man mag ihn nicht, man hat ihn platt gestimmt. Man will Spaß, Show und Magie – keine Weltverbesserungsvorschläge und Liebeslieder depressiven Miss- wie Wohlklangs in je drei Minuten.

Lordi aus Finnland, wie auch die Nächstplatzierten aus Russland und Bosnien & Herzegowina, Dima Bilan als eine Art Callboy im Unterhemd mit Teddybär-Appeal sowie das weltmusikalische Quintett Hari Mata Hari mit einer außergewöhnlich schönen Komposition des Serben Zeljko Joksimović, repräsentieren eine Modernität von europäischer, nicht allein nationaler Tonspur, wie es zuletzt 1974 gelang – durch eine schwedische Band namens Abba, die nach ihrem Grand-Prix-Sieg die alte Schlagerwelt moralisch ebenfalls ins Eck der Beleidigten und der vergeblichen Anstrengung schickte. Abba, auch sie räumten mit der Fantasie auf, das Leben sei ein Problem und müsse in seiner Tragik im Smoking oder bodenlangen Kleid besungen werden (Lys Assia, Frida Boccara, Anne-Marie David, Isabelle Aubret). Abba waren eine Band der Family Values, des Credos „Das Leben hat seine Schattenseiten, aber das ist kein Grund, die Sonne aus dem Blick zu verlieren“. Und das mit Hingabe. Lordi ist der Beweis, dass man in Europa Rock nicht für Teufelszeug hält, sondern für ausgesprochen lebensfreundlich – sogar gottergeben: „Hard Rock Hallelujah“. Auch wenn sich dieser Rock zum Rock verhält wie André Rieu zur Erbschaft der Klassik.

Authentizität, Echtheit der Gefühle? Lordi sagt dazu: „Masken machen natürlich.“ Und was ist die Botschaft, die er verkünden möchte? „Hmmh. Ich schätze: Lordi.“ Fein aufgetrumpft.

Es war ja sowieso ein grandioser Song Contest. Mit, das gehört wie eine Unvermeidlichkeit dazu, extrem peinlichen Auftritten, Maltas Fabrizio Faniello etwa, der keinen Ton passend singen konnte und aus Gründen lächelte, die sich dem Betrachter nicht sogleich erschlossen. Oder jener der Französin Virginie Pouchain, die auf ihre Art gewiss wünscht, ihr Name würde bald vergessen. Diese Unpässlichkeit fast konsequent falscher Intonation erinnerte sehr an Vicky Leandros’ Auftritt beim deutschen Vorentscheid: Hat Frankreich nichts Besseres? Sie alle irgendwie Letzte, unter der Rubrik „ferner sangen“.

Und hat Frankreich nichts Besseres zu tun, als einen Texas-Lightning-Fan zu belehren, Deutschland betreibe mit diesem Country-Lied den Ausverkauf europäischer Kultur, mache Tür und Tor auf für Amerikas Fast Food, wie es einer aus dem Tross des französischen Fernsehens formulierte? Mademoiselle Pouchain? Ein Missverständnis.

Aber die Griechin Anna Vissi – ein trockennebeliges Gedicht an Hingabe in einem Kleid für 75.000 Euro; ebenso die Kroatin Severina, deren Lied von Pumps handelt, solchen, vor denen kein frisch gesäter Rasen sicher ist – weil sie immer ihrem Ziel entgegenstöckeln, dem Sex nämlich. Das war angewandter Feminismus im Showbusiness, das hatte balkanische Kraft mit leichtem Silberblick. Die Isländerin Silvia Night auch, leider im Halbfinale mit „Congratulations“ gescheitert, die die Hexe gab, die Pop-Bitch, weil sie verstand, wie man polarisiert. Die junge Frau aus Reykjavík, aufgebrezelt und überkostümiert wie einst Tracey Ullmann, sagte: „Ich erinnere die Menschen an Mutter Teresa. Nur bin ich schöner und reicher.“ Nicht zu vergessen die Türkin Sibel Tüzün und ihr Song vom „Superstar“. Eine entschlossen performende Margot Werner vom Bosporus, entsetzlich schön kunstblond, die auf ihren High Heels zwar kaum die Showtreppe herunter kam, ohne die Hilfe ihrer in England angeheuerten Chorkerle in Anspruch zu nehmen – gerechte zwölf Punkte aus Deutschland.

Und Texas Lightning? Nahmen den 15. Platz nicht gerade mit Freude. Frontfrau Jane Comerford sagte: „Wir hatten unseren Spaß. War eine Superwoche. Und wir nehmen es, wie es kam.“ Müssen sie ja auch. Die Magie der deutschen Vorentscheidung war verflogen, ihre Show nicht mehr besonders im Reigen der anderen – und die Konkurrenz war ja auch nicht schwächlich wie im März in Hamburg. Country aus Deutschland? Das irritierte weniger, aber die Band musste in Athen ohne den „David gegen alle Goliaths“-Appeal leben, der Nimbus, einen Grimme-Preis-Träger an der Trommel zu haben, eine Hochschullehrerin, die sehr gut singt, und einen Mann, der im Fernsehen den Imbissbudenbesitzer in „Dittsche“ gibt.

Drei Plätze schlechter als Lou vor drei Jahren, sieben Plätze unter dem, was Max Mutzke schaffte. Eine deutsche Chart-Nummer-Eins weitgehend von Europa (des Ostens vor allem) überhört? Gab es schon öfter. 1964 mit Conny Froboess’ „Zwei kleine Italiener“, 2004 mit Max Mutzkes „Can’t Wait Until Tonight“. Andererseits fällt ja auf, dass deutsche Popwaren im Export nur selten Nachfrage finden. Ein Risiko, wie es Finnland mit der Wahl von Lordi einging, ist in Deutschland offenbar nur schwer zu vermitteln: Guildo Horn wie Stefan Raab wurden (und werden) ja vom Schlagerestablishment (das in den öffentlich-rechtlichen Medien seine Plattformen hat, der älteren Kundschaft wegen) regelrecht gehasst, und das von Herzen.

Die ARD hat mit dem Eurovision Song Contest die beste Quote im Unterhaltungsbereich seit 2000 (Grand Prix Eurovision in Stockholm, mit Stefan Raab) erreicht. Mehr als zehn Millionen Zuschauer, dieses Showformat ist die einzige Unterhaltungsperle der Senderkette. Entsprechend freut man sich auf das nächste Jahr, dann in Helsinki. Unsicher ist nur, mit was Deutschland dort aufwarten soll. Bands wie Juli oder Silbermond: Selbst wenn sie wollten, sollte man ihnen nicht zuraten. Ihre Mucke findet Europa absehbarerweise anstrengend. Oder Joy Fleming? Okay. Laut Regelwerk keine Altersgrenze. Oder doch mal in den alternativen Musikszenen sondieren?

Absehbar ist nur: Die einzige deutsche Grand-Prix-Gewinnerin, das Vergangenheitsmonster Nicole Seibert aus dem Saarland, wird wieder sagen, dass alles ganz furchtbar gewesen sei. Aus ihrer Sicht hat sie Recht: Furchtbar für Schlagerdeutschland war das garantiert.