415 Euro für Hartz IV

Union will bei Hartz IV kürzen. Paritätischer Wohlfahrtsverband dreht den Spieß um: Er will einen 20 Prozent höheren Regelsatz bei Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II

BERLIN taz ■ In einer Zeit, in der im Zusammenhang mit Hartz IV fast nur noch über Kürzungen, angeblichen Missbrauch und verschärfte Kontrollen geredet wird, muss man entweder mutig oder größenwahnsinnig sein, um mehr Geld für Arbeitslose zu fordern. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, nimmt weder das eine noch das andere für sich in Anspruch. Er versteht nur etwas von Armut. Im Gegensatz zu vielen Politikern weiß er genau, wie es am sozialen Rand der Gesellschaft aussieht. Deswegen fordert sein Verband, den Regelsatz für die Sozialhilfe sowie das Arbeitslosengeld II um 20 Prozent anzuheben: auf 415 Euro im Monat.

„Der derzeit geltende Regelsatz von 345 Euro sichert nicht einmal das Existenzminimum“, sagt Schneider. „Im Gegenteil, er treibt Menschen in soziale Not. Die Zunahme von Armut ist damit vorprogrammiert.“

Die vorgeschlagenen 415 Euro sind nicht etwa das Ergebnis einer oberflächlichen Schätzung – sondern das Resultat einer präzisen Berechnung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband, der seine Expertise gestern in Berlin vorlegte, operiert dabei mit denselben Zahlen wie die Regierung: dem Datenmaterial der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Jahres 2003. Er kommt jedoch zu einem völlig anderen Ergebnis. „Die Regierung hat den Regelsatz von 345 Euro auf eine Weise berechnet, die mit dem realen Leben im Grunde nichts mehr zu tun hat“, sagt Schneider. Das zuständige Bundesarbeitsministerium habe insbesondere die Ausgaben für Gesundheit, Nahverkehr und Kommunikationsmittel zu niedrig angesetzt und andere Posten wie Kinderbetreuung und Unterrichtsgebühren ganz gestrichen. Mit der Koppelung des Regelsatzes an die Renten, die nicht mehr steigen, nehme die Regierung außerdem Kaufkraftverluste bei Arbeitslosen ganz bewusst hin. „Die Absenkung des Niveaus von Sozialhilfe und Hartz IV immer tiefer unter die Armutsgrenze ist damit unausweichlich“, stellt Schneider fest.

Der Wohlfahrtsverband kritisiert die statistische Bemessung des Existenzminimums – obwohl er sich zur besseren Vergleichbarkeit der Methode selbst bedient hat. Dabei werde eine wissenschaftliche Objektivität vorgegaukelt, die in Wahrheit gar nicht gegeben sei. „Würde tatsächlich und ohne Abstriche das Ausgabeverhalten der untersten 20 Prozent der Bevölkerung herangezogen“, so Schneider, „dann müsste der Hartz-IV-Regelsatz etwa 500 Euro betragen.“

Es versteht sich von selbst, was der Paritätische Wohlfahrtsverband von den Kürzungsplänen der Union und Teilen der SPD in Bezug auf Hartz IV hält: gar nichts. „Völlig unverantwortlich“ nennt Schneider entsprechende Forderungen. Natürlich lässt sich die große Koalition von einem kleinen Armutsprofi wie Schneider nicht ans Bein pinkeln. Insbesondere die Union macht unbeirrt weiter. Sie will die so genannte Kostenexplosion bei Hartz IV zunächst im Alleingang angehen. Ihr Fraktionschef Volker Kauder kündigte gestern eine grundlegende Überarbeitung der Arbeitsmarktreform an. „Das ganze Gesetz muss auf den Prüfstand“, sagte Kauder. „Hartz IV läuft aus dem Ruder.“ Die Union wird dazu eine eigene Arbeitsgruppe einsetzen, die bis Herbst entsprechende Vorschläge erarbeiten soll.

Der SPD geht das zu weit. Arbeitsminister Franz Müntefering lehnt zusätzliche Korrekturen über die beschlossenen Nachbesserungen hinaus ab. Auch SPD-Fraktionschef Peter Struck hält eine Extraarbeitsgruppe der Union für unnötig. Er forderte gestern stattdessen eine bessere Kontrolle und Prüfung der Ansprüche von Arbeitslosen. Gleichzeitig legte Struck sich zum wiederholten Male fest: Die Höhe des Arbeitslosengeldes II von 345 Euro bleibe unverändert. „Dies wird überhaupt nicht in Frage gestellt.“ JENS KÖNIG