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: Es braucht keine Windmühlen, um gegen Windmühlenflügel anzukämpfen

Cristina Nord ist an der Croisette, wo der Wind kräftig bläst, nicht nur nachmittags vom Meer her, sondern auch tagsüber im Film

An manchen Nachmittagen zieht ein starker Wind auf. Er zerzaust die Palmwipfel hoch über der Croisette, er wühlt das Meer auf und treibt Schaumkronen vor sich her, die vielen Werbebanner, Flaggen und Wimpel rund um das Festivalpalais bringt er zum Flattern, und selbst im Kino weht er dann weiter: In Alejandro González Iñárritus Wettbewerbsbeitrag „Babel“ ist er schon zu hören, als die Leinwand noch vollkommen schwarz ist.

Nachdem die erste Szene Kontur angenommen hat, sieht man eine karge nordafrikanische Landschaft. Berge, Steine, Staub und Schafe: In dieser Umgebung – nach einer Weile erfährt man, dass es sich um Marokko handelt – wird sich der zentrale der drei Erzählstränge des Films entfalten. „Babel“ arbeitet mit Situationen, die sich umso dramatischer zuspitzen, je mehr Missverständnisse es zwischen den Akteuren gibt.

In jedem der Handlungsstränge verwendet González Iñárritu zwei Sprachen: englisch und spanisch in Kalifornien und Nordmexiko, englisch und arabisch in Marokko, japanisch und Gehörlosensprache in Tokio, und immer wieder gibt es Augenblicke, in denen eine Figur der anderen nicht zuhört und dadurch den tragischen Lauf der Dinge beschleunigt. Einmal erinnert eine Rückblende an einen Augenblick des Glücks, den zwei der Figuren, die Brüder Yussef und Ahmed, erleben: Die beiden Kinder stehen an einem Hang und stemmen sich gegen den Wind, die Arme ausgebreitet, die Münder weit geöffnet, so, als wollten sie den Wind essen.

In Ken Loachs ist der Wind Teil des Titels: „The Wind that Shakes the Barley“ (frei übersetzt: „Der Wind, der in die Gerste fährt“). Gemeint ist damit weniger ein sinnlich erfahrbarer Wind als vielmehr die Aufruhrstimmung, die vor gut 80 Jahren unter den Iren herrschte, als diese der britischen Besatzung überdrüssig waren. In Pedro Almodóvars „Volver“ fährt der Ostwind durch ein Dorf in La Mancha und spielt mit den Kittelschürzen der alten Frauen, während diese die Gräber ihrer Männer pflegen. In „Bled Number One“ von Rabah Ameur-Zaïmeche (Un certain régard) ist der Wind Teil einer gebrochenen Liebeserklärung. Der Protagonist, der vom Regisseur gespielte Kamel, kehrt aus Paris in seine nordalgerische Heimatstadt zurück, nachdem er aus Frankreich ausgewiesen worden ist. So zwiespältig diese Rückkehr für ihn auch sein mag, an einem lässt er keinen Zweifel: an seiner Liebe zu den Hügeln, dem Licht, dem Meer und dem Wind.

Der schönste Windfilm – und einer der schönsten Filme des bisherigen Festivals überhaupt – heißt „Honor de cavallería“ („Ritterehre“), ist ein Beitrag zur Quinzaine des Réalisateurs und kommt aus dem katalanischen Hinterland. Es ist ein Debüt; der Regisseur Albert Serra Miguel hat Hispanistik und Literaturtheorie studiert und sich für seinen ersten Film Miguel Cervantes’ Roman „Don Quichotte“ angenommen.

Die fertigen Filmversionen des Romans, die mir – wenn auch nur mehr schemenhaft – in Erinnerung sind, sind allesamt pompös und eitel. Serras Version entschlackt die Vorlage, sie arbeitet mit wenig Dialog, und sie verzichtet auf Windmühlen und üppiges Zeitkolorit.

Der hagere, ältere Ritter und sein Gefolgsmann, der dicke, wortkarge Sancho Pansa pflegen einen fast zärtlichen Umgang miteinander, und wer sich auf die Freuden der langen, von Handlung frei geräumten Einstellungen einlässt, der sieht ihnen gerne zu: wie sie durch Wiesen streichen, wie sie Nüsse mit Steinen knacken, wie sie ein Bad an einer Wasserstelle nehmen, wie sie am Abend Schutz am Rande eines Wäldchens suchen. Wenn die Sonne untergeht, dämmert auch der auf Digitalvideo gedrehte Film, und die Konturen verschwimmen. Die Tonspur – das Zirpen der Grillen, die Schritte im hohen Gras, das Quietschen der Ritterrüstung, das Schnauben von Pferd und Esel und die Geräusche des Windes – ist außergewöhnlich vielschichtig. Dabei ist es alles andere als einfach, Wind aufzuzeichnen. Mikrofone lieben klare, konturierte Geräusche, alles, was rauscht und ineinander übergeht, ergibt bei der Aufnahme schnell eine Tonsuppe – nicht so bei Serra.

Einmal fährt der Wind durch einen Olivenhain. Don Quichotte zückt sein Schwert, und in einer langen wunderschönen Szene kämpft er – gegen die Zweige der Olivenbäume, gegen den Wind und gegen die Flügel der abwesenden Windmühlen.