Willkommen am Kap Mehdorn

Berlins neuer Hauptbahnhof ist mitten ins Brachland gebaut. Wer hier ankommt, sucht die Stadt vergeblich. Nach Norden, nach Süden, nach Westen – nichts wird geboten. Wer den Mythos der Metropole sucht, muss weiterfahren. Wer aber die Melancholie des Unfertigen liebt, der sollte hier verweilen

von Waltraud Schwab
(Text) und Lorenz Kienzle (Fotos)

Die Berliner geben den Bauwerken ihrer Stadt gern eigene Namen. Sie tun’s mit leichter Zunge. Es ist als Aneignung zu verstehen. Deshalb firmiert das Kanzleramt unter „Waschmaschine“. Respekt vor der modernen Architektur muss sich am Alltag messen lassen, und was wie eine Waschmaschine aussieht, soll auch so heißen. Dem Fernsehtum, der als Telespargel daherkommt, und der Kongresshalle, der schwangeren Auster, erging es nicht besser. Dass die Siegessäule Goldelse genannt wird, spricht zudem für das entspannte Verhältnis der Hauptstadtmenschen zu denen, die große Geschichte machen.

Derzeit sind die Berliner und Berlinerinnen wieder auf der Suche. Der neue Hauptbahnhof muss sprachlich erobert werden. Nur so wird er nicht länger ein Fremdkörper in der Berliner Pampa bleiben.

Wie aber werden solche Namen gefunden? Zufall? Häufung glücklicher Umstände? Vielleicht den Mann da drüben fragen. Er hat sein Fahrrad gegen ein Geländer an der Spree gelehnt und schaut nachdenklich auf das Bauwerk. Wie werden die Berliner den Bahnhof taufen, haben Sie ’ne Idee? „Wat frajen Se mir?“, antwortet der, und es sieht nicht so aus, als ginge das Gespräch weiter. Dann fährt er doch fort: „Wenn ick ehrlich bin, mir fällt nur wat mit ‚Kap‘ ein. Ick meene so wat wie ‚Kap Größenwahn‘ oder ‚Kap Mehdorn‘, wa?“ Warum gerade Kap? „Weil et wat Halbinselijet hat“, antwortet er und zeigt mit ausladender Geste auf die Einöde rund um das neueste Berliner Bauwerk. An der Stelle ist das Gespräch allerdings längst nicht beendet. Seine Trauerrede auf den abgehängten Bahnhof Zoo ist beachtlich. Sie endet mit dem Satz: „Die hätten uns ja ma frajen können.“

Dem neuen Hauptbahnhof ist etwas Halbinseliges eigen, da hat der Mann Recht. Nur von Osten hat das Bauwerk die Stadt hinter sich. Wie ein Holzwurm bohrt es sich aus der alten Mitte heraus und streckt seinen Schädel in das ihn umgebende Brachland.

Eigentlich möchte, wer an einem Hauptbahnhof aussteigt, im Stadtzentrum ankommen. Wie eine Offenbarung soll sich der Ort vor dem Auge entfalten, mit seinem Pulsieren einfangen, mit seinem Herzschlag verführen. Es muss nicht schön sein, aber leidenschaftlich. Alles andere ist Täuschung.

Täuschung indes, die hat sich das neue Berlin auf die Visitenkarte geschrieben, denn das Flair eines Hauptbahnhofs wurde eingetauscht gegen etwas, das eher den Gesetzen einer Kanalisation folgt: Die, die hier aussteigen, werden ins Nichts gespült. So was ist Weltstadt?

Die Himmelsrichtungen rund um den neuen Bahnhof sind Fluchtlinien. Nur weg hier! Nach Norden, nach Süden, nach Osten, nach Westen – wohin? Die Freitreppen vor dem Gebäude sollen den Blick freigeben auf das Grandiose der Stadt. Allein sie bleiben Selbstzweck. Bis zur untersten Stufe ist alles durchdacht: die Maße, die Statik, die Betonmischung. Und weiter?

Der alte Berliner mit seinem Fahrrad, jener Mann, der mit der Halbinsel-Erkenntnis überraschte, schaut von Süden aus auf das Bauwerk. Ihn umgibt das frische Grün des Regierungsrasens, der hinter dem Kanzleramt angelegt wurde. Kunstvoll leicht in die Schräge gezogene Flächen sind es, die – man darf ja mal rumspinnen – die Kontinuität in der deutschen Politik symbolisieren. Sie zeigen: Mit uns geht’s bergauf, aber nur langsam. Dass alles auch wieder abrupt abfallen kann, haben die Planer nicht verheimlicht. Denn das Schräge wird durch eine Mauer gestoppt. Dahinter geht’s runter.

Für Leute, die Berlin kennen, mag die Weite, die durch das ansteigende Grün und den dahinter liegenden Bahnhof entsteht, nicht ohne Reiz sein. Hier kann, wer will, den Blick schweifen lassen. Hier bleiben? Weggehen? Solche Fragen drängen sich auf. Welcher Reisende allerdings kommt nach Berlin, um deutschen Rasen zu sehen?

Auch der Weg nach Westen geizt mit Verlockungen: Wohnhäuser aus den 70er-Jahren, eine Schule, die sich im Stundenrhythmus belebt, und jede Menge Bäume. Noch ein paar Schritte weiter das Moabiter Gefängnis: hohe Mauern, vergitterte Fenster, dicht verschlossene Tore.

Nur wer etwas über die Stadt weiß, wird durch die Seitenstraßen, die nach den Berliner Malern Otto Dix und Lesser Ury sowie dem Schreihals Claire Waldoff benannt sind, einen Weg zur Seele Berlins finden. „Wie der Mann knutschen, drücken, küssen kann“, singt Waldoff, „ja der ist Meester, Hermann heeßt er.“

Überhaupt Gefängnis – von denen gibt es unweit des Bahnhofs noch einige. Das älteste liegt gleich gegenüber. Erhalten ist von ihm nur eine Backsteinmauer. Der Hauptmann von Köpenick, der Attentäter von Kaiser Wilhelm I. und Leute des 20. Juli saßen hier ein.

Weil die Gefängnismauer so schön ist, kommt sie beleuchtet daher. So weit stimmt die Botschaft an den Reisenden dann schon: Angestrahlt wird das Wichtige. Hinter der Gefängnismauer wird derzeit ein Park angelegt. Wer die Lehrter Straße Richtung Norden weiterzieht, passiert, bevor er zur nächsten Justizvollzugsanstalt kommt, eine kleine Schrebergartenkolonie. Sie liegt auf dem ehemaligen Friedhof des historischen Gefängnisses, dort, wo Hingerichtete beerdigt wurden. Wilde, verwunschene Gärten stehen nun darauf. Von preußischer Gartenordnung keine Spur. Die FDP im Abgeordnetenhaus hat diese kleine Oase nun als Ärgernis ausgemacht. Verschwendung wertvollsten, verkehrstechnisch bestens erschlossenen, städtischen Grunds und Bodens sei das, argumentieren die Liberalen. Kein Wort zur sonstigen Ödnis rund um den Bahnhof. Das ist Berlin.

„Mitte Meer“ steht auf einem Plakat, das seit Jahren einsam unter den Gleisen der Stadtbahntrasse hängt. Das Blau des Wassers ist verblasst. Es ist Werbung, die ins Nichts führt. Aber wer die Heidestraße entlangfährt, die gegenüber dem Bahnhof beginnt, findet Mitte und Meer in einem alten Lagerschuppen: Es ist der größte Supermarkt für Mediterranes. Eine bessere Einkaufsgelegenheit gibt es in der Ecke nur noch an der Tankstelle.

Weil der Tiergartentunnel am Hauptbahnhof endet, wurde die Einfahrt zur Heidestraße neuerdings gekappt. So wird dieses städtische Ödland aus dem Gedächtnis getilgt. Heide, das sei eine „Pflanzenformation von Zwergsträuchern, Gräsern und Kräutern auf den nährstoffarmen Glazialböden des norddeutschen Tieflandes“, erklärt das Straßennamenverzeichnis. Das Nährstoffarme ist hier in Architektur umgesetzt: Nur Lagerhallen gibt es, Umschlagplätze, Abstellflächen, Werbeplakate und alte Gleise. Schon früher waren hier Bahnhöfe – der Lehrter Bahnhof, der Hamburger Bahnhof – die Geschichte hat sie ihres Zweckes beraubt. Wer die Heidestraße entlanggeht, wird umkehren, weil er kein Ziel erkennen kann.

Nur Richtung Osten wird man Berlin näher kommen. Der ausrangierte Hamburger Bahnhof unweit des neuen Hauptbahnhofs ist das Einfallstor. Seit Jahren wird er als Museum genutzt. Dort gibt es Kunst vom Besten, was Berlin bieten kann. Darunter Werke von Josef Beuys, Gerhard Richter, Anselm Kiefer – Künstler, die die Spur der deutschen Geschichte bis in die Gegenwart verfolgen. Dazu passt, dass das Museum an der Invalidenstraße liegt. Sie gedenkt jener, die einst einäugig, mit abgeschossenen Armen und Beinen zu Helden erklärt wurden. Auch der Hauptbahnhof liegt an der Invalidenstraße. Es passt, denn die Ödnis ist hausgemacht.

Einen Ort allerdings gibt es, an dem die Misere, die dem neuen Hauptbahnhof wie Pech anhängt, ein wenig vertuscht ist: Auf dem Bahnsteig der überirdisch verlaufenden Gleise wird, wer den Blick nach Osten richtet, ein Gefühl bekommen für die Versprechungen Berlins: Fernsehturm, Rotes Rathaus, die Kuppel des Doms. Näher als in diesem Moment rückt die Stadt nicht heran.