Immer noch glaubwürdiger als die Kirchen

Die DGB-Gewerkschaften leiden noch immer unter Mitgliederschwund. Berufsverbände hingegen erfreuen sich regen Zulaufs

BERLIN taz ■ Mediafon heißt das Beratungstelefon für so genannte Soloselbstständige, also Freiberufler ohne weitere Angestellte. Mediafon ist aber auch ein Projekt, mit dem die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di um neue Mitglieder wirbt. Die Hotline habe „wachsenden Zulauf“, berichtet Veronika Mirschel, die bei Ver.di für Freiberufler zuständig ist. Um Mitglieder zu werben, müssen sich die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisierten Arbeitnehmervertretungen schon etwas einfallen lassen.

Denn die Zahl der Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften ist im vergangenen Jahr um 3,3 Prozent gesunken, 6,8 Millionen Beitragszahler gibt es heute noch. Größter Verlierer war Ver.di mit einem Minus von 4,3 Prozent – und das, obwohl der Servicesektor im Unterschied zum industriellen Bereich als Jobmarkt der Zukunft gilt. „Die Leute fühlen sich in einer Einheitsgewerkschaft nicht mehr aufgehoben“, erklärt Horst-Udo Niedenhoff, Gewerkschaftsexperte beim arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, den Rückgang. „Während die spezielleren Berufsorganisationen großen Zulauf verbuchen, sinkt die Mitgliederzahl bei den großen Gewerkschaften.“

Die Masseneintritte von Ärzten in den Marburger Bund sind das jüngste Beispiel für Niedenhoffs These. Auch die Pilotengewerkschaft Cockpit verzeichnet neue Mitglieder, und der Deutsche Journalistenverband wächst ebenfalls, während Ver.di um die Mitgliederzahl bangt. Die „Abgrenzungswünsche“ dieser mittelschichtigen Berufe seien stärker geworden, meint Niedenhoff, und das sei schlecht für Massenorganisationen.

Doch es gibt auch Ansätze für einen Gegentrend: Der Rückgang an Mitgliedern wurde im vergangenen Jahr immerhin verlangsamt. „Gerade in unsicheren Zeiten können Gewerkschaften wieder attraktiv werden, wenn sie vor Ort flexibel auf die Probleme von Belegschaften reagieren“, sagt der Frankfurter Gewerkschaftsforscher Josef Esser. So ist beispielsweise die Mitgliederzahl der IG Metall im letzten Jahr bundesweit um 2 Prozent zurückgegangen. In Nordrhein-Westfalen aber konnte die Gewerkschaft ebenso viele Beschäftigte hinzugewinnen wie sie durch Austritte oder Sterbefälle verlor. Die betriebliche Tarifpolitik der dortigen IG Metall, die sich bei Arbeitszeiten und Sonderzahlungen flexibel gezeigt hat, „hat viele Beschäftigte angesprochen“, erklärt Wolfgang Nettelstroth, Sprecher der IG Metall Nordrhein-Westfalen.

Nur noch 68 Prozent der Beschäftigten im Westen und 53 Prozent im Osten werden von Tarifverträgen erfasst. Tarifliche Regelungen werden selbst von den öffentlichen Arbeitgebern zunehmend weniger geachtet: So waren die tariflich festgelegten Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst der Länder schon seit zwei Jahren gekündigt und neu Eingestellte wurden tariflos zu höheren Arbeitszeiten verpflichtet, bis es jetzt zum neuen Abschluss kam. Auch in anderen Branchen herrschen nach dem Auslaufen von Tarifverträgen erst einmal „tariflose Zeiten“, in denen die alten Tarifverträge nur noch mit Nachwirkung und eingefrorener Lohnhöhe gelten. Diese Fälle „häufen sich“, heißt es im Tarifhandbuch 2006 des gewerkschaftsnahen WSI-Instituts.

Als Tarifpartner allein also schwindet die Macht der Gewerkschaften – nötig ist nach wie vor der moralische Surplus, sich für die Schwachen auch politisch einzusetzen. Was die Glaubwürdigkeit betrifft, rangieren die Gewerkschaften bei den Jüngeren zwar laut Umfragen weit hinter Greenpeace, jedoch vor den Kirchen und der Wirtschaft. Immerhin.

BARBARA DRIBBUSCH