Damaszener Szenen

Zwischen realitätsresistenter Propaganda, der gelebten Tradition aus Tausendund- einernacht und heimlichem Nightlife: Wie lebt es sich in Syriens arabischem Sozialismus ?

AUS DAMASKUS LEILA DSHAMILA

Morgens um acht wurde ich vom Mitarbeiter eines syrischen Fernsehproduzenten abgeholt und zur Universität Damaskus gekarrt, wo ich einen Sitzplatz in einem nahezu schrottreifen Bus zugeteilt bekam – inmitten von propagandistisch aufgekratzten StudentInnen, die alle vom Golan stammten. Es war „syrischer Muttertag“, der auf den von Israel seit 1967 besetzten Golanhöhen traditionell pressewirksam begangen wird. Programm des Tages war, mit der versammelten arabischen Presse Richtung Heimat der StudentInnen zu fahren, rund zwei Stunden entfernt, um dort das „Tal der Stimmen“ propagandistisch aufzubereiten. Vier Reisebusse voller Arbeiterkampflieder singender Studenten, ein paar Kleinbusse voller Journalisten und einer mit technischem Equipment fuhren also im Konvoi Richtung Feindesland. Syrien im Frühling ist wunderschön: Die hügelige Landschaft grünt und ist voller blühender Blumenwiesen, das Panorama des Antilibanon-Gebirges bezaubert durch schneebedeckte Gipfel.

Kaum am windigen Golan angekommen, installierten Aktivisten große Lautsprecher, es wurden Landesflaggen, weiße und rote Nelken verteilt und der sozialistische Muttertag begangen. Stimmung wie auf einem Open-Air-Parteitag, über Vogelgezwitscher schepperte es aus den Lautsprechern: die syrische Hymne und arabische Arbeiterkampflieder zur Einstimmung. Nach dieser einstündigen Ouvertüre schmetterten ausgewählte StudentInnen weitere drei Stunden lang dramatisch in der Landschaft nachhallende Liebesgrüße an ihre Mütter, die hinter dem rund 500 Meter breiten, verminten Todesstreifen, der die UN-bewachte Grenze zwischen Syrien und Israel bildet, auf ihren Einsatz warteten. Dann schmetterten die Mütter hinter dem Todesstreifen die syrische Hymne zurück, verbunden mit propagandistischen Grüßen. Einige Mädchen (alle ohne Kopftuch) weinten, während sie aus kajalumrandeten Augen angestrengt mindestens so betroffen und sexy wie Angelina Jolie beim Kinderadoptieren in Kambodscha in die zahlreichen Profikameras aus dem gesamten arabischen Raum guckten.

Die internationale Presse, bestehend aus mir und einem französischen Arabisch-Studenten, der für ein Pariser Pilgermagazin schreibt, filmte die Bilder, die die Welt noch nicht gesehen hat, unprofessionell mit dem von zu Hause mitgebrachten Camcorder, gekauft bei Aldi: Wir waren die ersten internationalen Berichterstatter, die zu diesem Event geladen wurden.

Wer über ein Land wie Syrien berichten möchte, sollte bei der Beantragung des Einreisevisums als Beruf „Journalist“ angeben. Mit diesem Visum darf man einen Monat lang in Syrien arbeiten, aber nicht aus- und wieder einreisen, denn dann bestünde die Gefahr, dass man brisantes Material über den freien Libanon ganz einfach durch internationale Paketdienste außer Landes schafft. Deshalb spricht einiges gegen eine offizielle Akkreditierung, man weiß ja vor Reiseantritt nie ganz genau, welche Geschichten sich auftun. Aus Gründen der persönlichen Freiheit und Sicherheit war es mir lieber, als „Studentin“ nach Syrien einzureisen. Der mitreisende Kollege, als Freelancer im Auftrag einer deutschen Sendeanstalt unterwegs, war offiziell gemeldet – was für die Durchführung von Dreharbeiten auch notwendig zu sein schien. Selbst „Reporter ohne Grenzen“ haben keine aktuellen Informationen über die journalistischen Arbeitsbedingungen; es gibt nur eine dauerhaft hier lebende ausländische Hörfunkjournalistin, eine junge Deutsche. Auf dem Pressefreiheitsindex belegt Syrien den 145. Platz. Und steht auf der Liste der 37 größten Feinde der Pressefreiheit.

Immerhin soviel war im Vorfeld herauszubekommen: Wer filmen möchte – was auch immer –, muss den syrischen Informationsminister darüber in Kenntnis setzen. Und natürlich auch die zuständige Stelle, die schikanös weit außerhalb Damaskus gelegene Behörde für Internationale Presse, Abteilung Radio und Fernsehen. Hätte ich es korrekt machen wollen, hätte ich mich bei dieser und bei der Behörde für Ausländische Printerzeugnisse melden müssen. Und dann natürlich noch mal beim Infominister vorsprechen, um Story-Ideen anzumelden. Beim Vorlegen der Rechercheidee „russische Prostituierte in Syrien“ wäre ich sicher gleich ausgewiesen worden. Und hätte auch nichts über die iranischen Drogendealer, Heroin- und Opium-Junkies und den fantastischen blonden Libanesen erfahren. Auch die Cousine vom Hizbollah-Führer Nazrallah wäre nie meine Freundin geworden. Aber dazu später mehr.

Die Kamera sollte in Damaskus auf uns warten, von der syrischen Journalistenunion werde sie gestellt, hieß es in Deutschland. Per Fax und Telefon seien die Kollegen informiert und wüssten über uns – oder zumindest den offiziell angemeldeten Kollegen – Bescheid. Nach zwei Besuchen in der ollen, kaputten, internetfreien syrischen Journalistenunion war allerdings klar: Hier gibt es keine Kamera, nur Verständigungsschwierigkeiten, trotz der hinter mir liegenden drei Semester Arabisch wollte man uns dort nach mehrfachen Gesprächen für 101 Dollar – ein doppeltes Durchschnitts-Monatsgehalt – nur einen Brief geben, mit dem wir uns beim Info-Minister als Journalisten hätten melden sollen. Beim dritten Besuch verstanden die wie geschlagene Hunde wirkenden lokalen Kollegen mich endlich: Eine Kamera! Die sei für 800 Dollar pro Tag zu mieten, bei einem Produzenten, der in Damaskus für Al-Arabija und andere panarabische Sender die Stellung hält, natürlich mit einem regimetreuen Kameramann, den wir immer mitmieten müssten.

So kann man nicht arbeiten. Immerhin lud mich der Produzent mit den riesigen Satellitenschüsseln im Vorgarten seines Büros im edlen Regierungsviertel, wo moderne Syrer im ersten und einzigen „Kentucky Fried Chicken“ des Landes lunchen, herzlich zu meinem ersten offiziellen Pressetermin ein. Und so war ich zumindest auf den Golan gekommen, umringt von aufgewühlten StudentInnen am syrischen Muttertag.

Traurig die Situation, irgendwie ergreifend, aber auch total bekloppt das Ganze: Dass viele der Demonstranten mit ihren Müttern täglich per Funktelefon sprechen, dass in allen syrischen wie israelischen Internetcafés mittlerweile Webcams stehen und dass die Studenten nicht für immer, sondern nur für die Zeit des Studiums von ihren Eltern getrennt sind, wurde nicht offiziell kommuniziert. Auch nicht, dass die meisten einen Monat pro Jahr im reichen Israel arbeiten und nach dem Studium zum Staatsfeind Nr. 1 überwechseln wollen, weil das Geld und die Meinungsfreiheit und ganz vieles mehr in Israel besser zu sein scheint als in Syrien. All dies erfahre ich erst nach ein paar Stunden einfühlsamen Nachfragens.

Trotzdem toll, dass ich hier dabei sein darf, denn ich lerne Manal kennen. Die syrische Korrespondentin des ägyptischen Senders Al-Misria kommt auf mich zu und fragt mich, ob ich ihre Freundin werden will und warum ich nur so eine kleine Kamera hätte („German Hightech?“), dann reden wir ganz viel über den Zustand ihrer Frisur im Wind, das scheint sie zu bewegen, wenigstens klappt das schon auf Arabisch. Die Busse laden uns wieder ein. Wir rumpeln zurück nach Damaskus, vorbei an Quneitra, der von den Israelis 1967 eroberten und 1974 vermint und total zerstört hinterlassenen ehemaligen 30.000-Einwohner-Stadt. Zu Propagandazwecken wurde Quneitra von den Syrern nicht wieder aufgebaut. Statt dessen wächst die Hauptstadt weiter.

Das neue Damaskus wirkt wie eine unfertige Plattenbau-Großbaustelle, die im Verkehr zu ersticken droht, weshalb Fußgänger die meisten Hauptstraßen auf Überführungsbrücken mit viel zu schmalen Treppen überqueren müssen. Diese Brücken, auf denen oftmals Menschenstau herrscht, dienen häufig Kindern als Arbeitsplatz. Mit alten Waagen hocken die schmutzig-verrotzten, sozialistisch-schulpflichtigen Kleinen dort hoch über der nicht-katalysierten Blechkarawane und bieten die Messung des Körpergewichts oder einzelne Zigaretten gegen Cent-Bruchteile an. Unten, entlang den überlasteten Straßen, drängeln sich Handy-Geschäfte, Kopftuchläden, Internetcafés, Saftbars, Schneider, Schmiede und Bäcker, aber keine Supermärkte, nur schnuckelige inhabergeführte Gemischtwarenlädchen. Und überall – an allen offiziellen Gebäuden, an Fußgängerbrücken, in vielen Geschäften – hängen Poster, Plakate oder Gemälde des Staatsführers Baschar al-Assad oder seines Vaters, Hafez. Auch auf Fensterscheiben, an Bussen und Autos kleben ihre schemenhaften Porträts. Das bei jungen Männern beliebteste gibt es in Schwarz oder Gold, Baschar trägt darauf eine verspiegelte Sonnenbrille, und wer ihn ganz besonders eifrig liebt, hängt sich die Heckscheibe seines Autos gleich mit einer Baschar-mit-zwei-Adlern-Flagge zu. Besonders bemerkenswert sind neben den ganzen Baschars die vielen Boutiquen, in denen sexy Dessous, überknielange Damenstiefel mit High Heels und verwunderlich viele Minikleider feilgeboten werden.

Laut ist es auf den Märkten rund um die Altstadt. Hier wird, wie auch sonst in der arabischen Welt, nicht geblinkt, hier sprechen die Autos miteinander. Fünfmal am Tag mischen sich die teilweise kakophonischen Gebetsrufe in die nur freitagvormittags versiegenden Hupkonzerte, und zwischendurch haben laute Männer auf den Straßen allerlei miteinander zu beschreien, und sei es nur der Preis für die hierzulande unverständlicherweise gerne mit Schale gegessenen unreif-bitteren Mandeln. Neben raubkopierten aktuellen US-Filmen und CDs kann man allerlei Befremdliches auf den Souks, den alten Märkten, erwerben: lebende Schlangen, Schafs- und Kalbshirne und -hoden im Stück, essbare Frösche, Hühner und Singvögel. Natürlich auch unendlich viele duftende Gewürze, getrocknete Blumen, Nüsse und geröstete Kerne. Ein großes Geschäft sind auch gefälschte Markenprodukte. Manchmal können sich die Markenpiraten nicht entscheiden, welches Label sie denn nun imitieren wollen, und so gibt es für ein paar Euro Jeans, Schuhe und Tennissocken minderer Qualität, auf die „Puma Armani Reebok“ gleichzeitig gedruckt ist. Und wenn sich die Sonne senkt, erwacht hier der internationale Markt für Sex.

Das alte Damaskus hingegen scheint in ewig währendem Dornröschenschlaf durch die Jahrhunderte zu dämmern. Die schmalen Sträßchen Bab Toumas, dem Teil der Altstadt, in dem seit Jahrhunderten Christen bis zum heutigen Tag teilweise ohne fließendes Wasser leben, sind bevölkert von europäischen Kulturtouristen in Jack-Wolfskin-Wüstenmontur und deutschen Sprachstudentinnen, die einen arabischen Freund zu Hause haben. Geht man in einen beliebigen Hauseingang, eröffnen sich ständig neue Gassen, in denen vom Einsturz bedrohte Häuser lebensunwerten Lebensraum für vom Staat vernachlässigte Bürger bieten. Hier drängt sich verfallendes Weltkulturerbe dicht an dicht, und vor einigen Jahrzehnten, bevor die Luftverschmutzung in Damaskus die schlimmste im östlichen Mittelmeerraum wurde, muss es auch pittoresk gewesen sein. Nun ist es nur noch traurig. Nicht selten verbergen sich hinter den Türen der grauen, verfallenen Fassaden wunderschöne Kirchen und Klöster aller christlicher Glaubensrichtungen: Syrisch- und Griechisch-Orthodox, Armenisch, Griechisch-Katholisch, Syrisch-Katholisch, Maronitisch, diverse protestantische Kirchen und natürlich alle nur denkbaren Orden. Auch hier müssen Präsidentenbilder hängen, aber die Franziskaner etwa haben ihres, zugunsten zweier großer Papstbilder, einfach in die Ecke gehängt.

Schon steht das nächste große Presse-Event des Landes unter bombastischen Sicherheitsvorkehrungen an: Die Eröffnung des ersten internationalen Fünf-Sterne-Hotels des Landes. Die Akkreditierung erfolgte bereits, an den syrischen Aufsichtsbehörden vorbei, für die ich ja keine Journalistin bin, per deutsches Internet. Das syrische Internet taugt für die Recherche nicht viel, da die meisten interessanten und alle regimekritischen Seiten in Syrien gesperrt sind.

Der Hauptinvestor des 100 Millionen Dollar teuren Hotels, Seine Königliche Hoheit Prinz al-Waleed Bin Talal aus Saudi-Arabien und der Präsident von Syrien, Dr. Baschar al-Assad, luden von 12.00 bis 16.45 Uhr zu einer Veranstaltung ein, die sich für die Presse als „Warten in einem fensterlosen Raum“ herausstellte. Es gab Sandwiches, die keiner Sterne verdächtig waren, und einen Einblick in die seltsame lokale Journalistenszene, die es schafft, nicht-kritisch zu berichten. Unaufgeregt warteten die Damen und Herren Kollegen einfach, bis der Tag programmgemäß vorbeiging, der Präsident musste beim Durchschneiden eines roten Bandes gefilmt werden, dann musste stundenlang im Raum gewartet werden, während die geladenen Ehrengäste mit dem Präsidenten beim Lunch saßen. Dank der hübschen Manal, die auf meinem „German Hightech“-Minimonitor immer wieder ihre Frisur überprüfen musste, hatten der Kollege und ich wenigstens ein wenig Unterhaltung.

Nach Stunden kam Seine Königliche Hoheit Prinz al-Waleed Bin Talal in unseren Raum, um eine Pressekonferenz abzuhalten. Er hoffe auf die weitere Öffnung Syriens dem internationalen Tourismus gegenüber, auch Nordamerikaner kämen, die Eröffnung setze einen Meilenstein. Dann mussten wir im Raum wieder warten, bis alle Honoratioren das Hotel verlassen hatten. Besonders bemerkenswert hierbei war die Entourage des Prinzen, die während der Konferenz in der ersten Reihe saß: drei aufwändig zurechtgemachte Damen in Chanel-Minikostümen. Zu den Begleiterinnen mit falschen Wimpern und Haarteilen, irre hohen roten Lackschuhen, ganz langen roten Nägeln und sehr klein operierten Näschen, dafür aber wieder sehr großen Brüsten wurde nichts gesagt. Es wird sich wohl um „Assistentinnen“ gehandelt haben. Hätte der charmante Schweizer Generaldirektor des Hotels sich nicht sofort nach Ende der Konferenz bei uns für die Bedingungen entschuldigt, unter denen wir berichten sollten, hätte ich das zugegebenermaßen wunderschöne Hotel nie wieder betreten wollen.

Interessante Themen verstecken sich in Damaskus an jeder Ecke, man muss sie nur vom romantischen Staub befreien, der sich über die „älteste dauerhaft bewohnte Stadt der Welt“ gelegt hat. Zwei deutsche Freunde etwa, Sprachstudenten, lebten ihren einmonatigen Sprachkurs über hier in christlichen, traditionell arabisch geprägten Familien. Der eine berichtete leicht verstört von den Lebensumständen seiner Gastfamilientochter – sie unterscheiden sich nicht von den als typisch muslimisch konnotierten Schicksalen: Falls die arabische Christin, um die zwanzig, das Haus verlassen will, bekommt sie einen zurechtweisenden Schlag vom Bruder, selbst vor Gästen. Vom selben Bruder übrigens, der seinerseits stolz mit angeblich selbst gemachten Handyfotos von nackten nordafrikanischen oder palästinensischen Prostituierten anzugeben pflegte. Die Töchter müssen schnell verheiratet werden, während die jungen Männer im Hotel Mama ausharren dürfen, solange es ihnen gefällt. Die Aufopferungsbereitschaft ihrer Mütter, Satellitenfernsehen und die ständige Übertragung der deutschen Bundesligaspiele auf Dubai-TV machen den Jungs das langweilige und perspektivlose Leben erträglich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei sieben, inoffiziellen Schätzungen zufolge jedoch weit über zwanzig Prozent.

Um eine Kamera zu einem vertretbaren Preis zu organisieren, fuhr ich mit einem Taxi für zehn Dollar die drei Stunden nach Beirut, das man trotz der Kriegsruinen und der ganzen Baukräne – dem offen zur Schau getragenen Stil der Einwohner geschuldet – schon getrost wieder das „Paris des Orients“ nennen kann. Zerlöcherte Kriegsruinen wackeln neben stolzen Baukränen, immer abwechselnd, die ganze Stadt hindurch, selbst an der Strandpromenade ist alles entweder noch zerstört oder schon neu oder noch im Bau. Die ehemalige Grüne Linie, die die christliche und die muslimische Kriegspartei voneinander trennte, ist keine Gedenkstätte, sie ist eine weitere Ruine-neben-Neubau-Zone wie die gesamte Stadt, wie das ganze Land, obwohl die Berge rings um Beirut gut und kostspielig besiedelt scheinen. Libanesen lieben irre große neue Ami-Schlitten, Mobiltelefone und Schönheits-OPs als Statussymbole. Atemlos wirkt diese Stadt, die große Zelt-Gedenkstätte für den ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten des Libanon, Rafik al-Hariri, ist ein Ruhepol im Zentrum, eine Pilgerstätte, das geografische Symbol der Zedernrevolution, die die syrische Besatzungsmacht vor etwas mehr als einem Jahr zum Abzug zwang.

Die Beiruter Ladys sind elegant und todschick, stolzieren mit geföhntem Haar und perfektem Make-up auf hohen Absätzen daher. In den Bars und Cafés der internationalen Ketten servieren bildhübsche Kellner in Designer-Arbeitsdress Latte Macciato und internationale Küche, wobei ich allein in einem Café zwei Garçons wahrnahm, die stolz ihre Nasen-OP-Pflaster durch die Gegend trugen. Und daneben wieder: bürgerkriegszerschossene Häuser. Auf den Straßen im nach historischen Vorgaben für mindestens 15 Milliarden Dollar komplett neu aufgebauten Downtown Beirut, auch Disneyworld genannt, wird der internationalen Modewelt zu internationalen Preisen gehuldigt. Der Multimillionär al-Hariri hatte den mittlerweile wichtigsten arabischen Immobilienfonds „Solidere“ nach dem Bürgerkrieg gegründet, um den Stadtkern vor allem durch private Investoren gewinnbringend wiederaufzubauen.

Nachts geht es in einem anderen Distrikt richtig los. In der Rue Monot reihen sich Clubs an Pubs an Bars, und leicht bekleidete Libanesinnen wollen mit den schick frisierten, gut duftenden jungen Männern ihren Spaß haben – auf dem Dancefloor, beim beliebten Hobby Champagnertrinken. Doch sexuell laufe eher wenig bis gar nichts, erklärt mir ein schon länger im Libanon lebender Kanadier. Die Restaurierung des Jungfernhäutchens sei trotzdem nicht abwegig, sie koste in Syrien nur 30 Dollar.

Ein Bekannter, der seit kurzem eine eigene Apotheke in Beirut führt, zeigt mir sein mit Aphrodisiaka dekoriertes Schaufenster: Vom echten über libanesisches Viagra bis hin zu „Hercules-Penis-Creme“ und Spanischer Fliege werde allerlei Potenzstärkendes gefragt. Die jungen Männer, erläutert er, dürften nicht so oft wie sie wollten, und wenn sie dürften, sei es oft so, dass sie dann nicht könnten. Da auch Frauen mittlerweile unter dem Druck stünden, bereit zu sein, wenn es denn sein müsse (ein anderer Bekannter beschrieb die Beiruter Girls als materialistisch), nähmen auch sie gerne Pillen wie „La Vigra – Viagra for Women“. Wie ich später in Gesprächen mit arabischen Frauen erfahre, laufen deren Diskussionen über Sexualität bis in deutlich intimere Details als unter europäischen Damen. Versagt ein Mann der Jeunesse Dorée in einschlägiger Situation, spricht sich das schnell herum. Auf allen Pillenpackungen steht: „Safe with Alcohol“.

In Beirut tanzt man bis zwei Uhr morgens in Bars, danach geht es in Clubs, die entweder 20 Dollar kosten oder horrende Getränkepreise bei freiem Eintritt verlangen. Etwa ins BO18, einen Bürgerkriegsbunker, in dem sargartige Klappcouchen zum Sitzen einladen, aber auch dazu, den Deckel zuzuklappen und darauf zu tanzen, was nach einigen Flaschen des offensichtlichen Prestigegetränks Champagner auch tatsächlich in jeder Ecke gemacht wird. Leicht tranciger Downtempo-House treibt die Gäste – Eintritt frei, Drinks um 15 Dollar – angenehm unaufdringlich durch die Nacht. Irritierend nur: Auf jedem Sarg-Champagner-Tischchen steht ein Foto eines im Bürgerkrieg gestorbenen jungen Menschen, schicke Schwarzweißfotos im Alain-Delon-Stil. Im Fluss der Party öffnet sich einige Male das Dach, ferngesteuert, so dass die TänzerInnen die Sterne des Vorderen Orients betrachten können. Die angesagten Konversationssprachen sind Französisch und Englisch. Meeresbrise, Sonnenaufgang, neue Freunde.

Am Ende kam ich auch zu einer mit privaten Dollars gemieteten Kameraausrüstung – und stand nun, glücklich mit Kamera, Stativ, Kabel-, Akku- und Lichttasche, vor dem Problem, das klobige Equipment allein zurück nach Syrien bringen zu müssen. Denn auch für die Einreise mit Profikamera sieht das System ein kompliziertes Geflecht aus Faxen an den syrischen Infominister und die Grenzbeamten vor. Um alles ganz korrekt zu machen, müsste man auch den libanesischen Grenzern eine Checkliste faxen. Und irgendwie erklären, was ich als Studentin mit Mehrfacheinreisevisum denn mit dem Kollegen mit Journalistenvisum zu tun habe. Neue serbische Freunde in Damaskus sagten mir, dass Schmuggeln wirklich immer einfacher sei als alles Offizielle, also verstaute ich die einige tausend Euro teure Ausrüstung in einem feuchten, zugigen Reisebus und führte unser Arbeitsmaterial illegal über das größte Haschischanbaugebiet der Welt, die Bekaa-Ebene im Libanongebirge, von Platz Nr. 108 nach Platz Nr. 145 auf dem Pressefreiheitsindex ein.

Als der TV-Kollege dann den Dreh über die deutsch-syrische Universität – ein privates Unterfangen im idyllischen Bergstädtchen Homs, das seit kurzem nach dem Bologna-Abkommen lehrt – anmeldete, ließ der Info-Minister verlautbaren, dass wir zwei Aufsichtsbeamte beim Dreh dabeizuhaben hätten. Zum Glück schien es ihm egal zu sein, ob und woher wir eine Kamera hatten. Am Morgen des Drehtages aber rief der Minister noch mal an: das Thema sei so harmlos, bald seien so viele Feiertage, seine Agenten hätten schon frei, wir sollten doch einfach drehen. Die Uni filmten wir schnell und ohne Komplikationen ab.

Gerade war ich zu neuen Freunden gezogen, zu einer christlichen Verwandten des schiitischen Hizbollah-Führers Nazrallah und ihrem serbischen Freund, die sich illegalerweise – da unverheiratet – ein Haus gemeinsam mit zwei Travellern und einem deutschen Sprachstudenten gemietet hatten. Sie arbeitete früher in einem Konvent mit minderjährigen aussteigewilligen palästinensischen Prostituierten und erzählte mir, dass die meisten Mädchen in ihrer Kindheit vom Familienangehörigen sexuell missbraucht worden seien. In ihrem Haus tobte Nacht für Nacht der Damaszener Underground in Form von Expats, die keine Lust mehr auf die einzige Form des Nachtlebens – Nuttenbars – hatten.

Der syrische Anisschnaps Arrak und der gelblich-grüne, feinstaubige und psychedelisch wirkende blonde Libanese wurden hier kredenzt und ein paar kaputte junge Iraner auf Opiumentzug schauten auch gern vorbei. Als ich mich aus reiner Neugierde nach den Preisen für sämtliche Drogen erkundigte, drückte mir der einst hübsche Perser sofort – orientalische Gastfreundschaft gestattet keine Widerrede – diverse bunte Pillen in die Hand, mit den Worten: „Die hier, falls du kein Heroin hast … Die hier, falls du Koks brauchst…“ In Syrien, so die Erklärung des Drogenprofis, gebe es nämlich nur Haschisch und Heroin, Opium nur im Iran, Kokain und andere Modedrogen nur im Libanon und natürlich in Israel, ganz klar – dort, wo harte Währung zu holen sei. Die Pillen hätte er alle von einer ihm „freundlich gesinnten Apotheke“ erhalten, von denen er einige in Damaskus kennen würde. In fast allen arabischen Ländern sind fast alle Medikamente verschreibungsfrei.

Die Shops mit westlicher aufreizender Mode, die obszönen Handyfotos und männliche internationale Reisende, die mir erzählten, wie sie nachts am zentralen Platz, dem Märtyrerplatz, Einladungen für preiswerte Wohnungsprostitution erhielten, öffneten mir die Augen für eine Parallelwelt der Stadt. Bei abendlichen Spaziergängen im neuen Teil von Damaskus nahm ich überall die roten „Night-Club“-Leuchtreklamen wahr und traute mich auch hinein in diese wie echte Siebziger-Jahre-Discos angelegten Etablissements. Rings um die meist kreisförmige Tanzfläche hocken allnächtlich junge Mädchen aus Russland, der Ukraine oder Weißrussland und müssen auf Geheiß des Managers alle halbe Stunde tanzen. Danach werden sie von interessierten Gästen an die Tische gebeten, es wird getrunken, später geht man in Hotels oder Wohnungen.

Einige Nächte lang gehe ich mit meinen serbischen Freunden in diese Night Clubs und gebe mich den Mädchen gegenüber als eine von ihnen aus: „I am German and new here in business.“ Sie erzählen freimütig in bruchstückhaftem Englisch: dass das Leben hier schlecht, aber immer noch besser als zu Hause sei, dass sie ihre schmierigen Hotels direkt im Stadtzentrum tagsüber nicht verlassen dürften, dass sie pro Kunde gerade mal zwanzig Dollar verlangen könnten, dass sie keine Kondome benutzten und dass sie ihr Hauptgeschäft im Sommer machen würden, wenn die Saudis kämen. Prostitution und die Beihilfe dazu stehen unter hoher Strafe in allen arabischen Ländern, aber das System sei korrupt, auch Staatsdiener zählten zu ihren Kunden. Eine Packung der syrischen Viagra-Imitation kostet in den Apotheken von Damaskus etwas über einen Euro; die Viererpackung Kondome hingegen zwei.

Ein junges englisches Pärchen, das nachts um vier auf einer dieser Straßenüberführungen knutschte, erfahre ich, wurde von der Polizei aufgeschreckt, dem Mädchen gelang es, wegzurennen, der Junge aber wurde eine halbe Stunde lang mit vorgehaltenen Schusswaffen bedroht, angeschrien und ins Mark verängstigt. Denn öffentliches Küssen ist in Syrien, wie auch freie Meinungsäußerung, Prostitution, Drogenhandel oder der Besitz einer Profikamera: unter Strafe verboten.

LEILA DSHAMILA, 30, lebt als freie Autorin in Berlin