Gefährliches Blut?

Nach dem Amoklauf eines Jugendlichen in Berlin geht die Angst vor einer HIV-Infektion um. Ist sie begründet? Nicht, wenn bei der ersten Hilfe die richtigen Medikamente zum Einsatz kommen

von JAN FEDDERSEN

Der Beschuldigte bestreitet die Tat, er will sich zumindest an nichts erinnern – was Zeugen für glaubwürdig halten, weil der 16-Jährige, der seit Freitagabend des versuchten Mordes angeklagt ist, in volltrunkenem Zustand gehandelt haben soll: Mit einem Messer bewehrt vom Berliner Reichstagsgebäude kommend, hatte er auf dem Weg am Spreeufer entlang zum neuen Hauptbahnhof 28 Menschen mit Messerstichen verletzt.

Dies schwerwiegend genug, befand sich unter seinen Opfern eines mit HIV-Infektion – ein Mann, der dies so freimütig wie hilfreich einräumte. Das HI-Virus führt, versucht man es nicht mit Komplexpräparaten einzukapseln, zur Immunschwächekrankheit Aids: Infektiös bleibt das Virus, obwohl sein menschlicher Träger gesund sein kann, in jedem Fall. Jene Menschen, die der Täter nach dem HIV-Infizierten mit seiner Stichwaffe verletzte, könnten sich also mit HIV angesteckt haben – weil Reste des Blutes des HIV-Infizierten unter die Haut der nächsten Opfer gelangt sein könnten.

Alles bleibt vorläufig vage – Spiegel Online sprach von einem „neuen Schock“ nach der Tat als solcher. Tatsächlich sind alle Verletzten gebeten worden, sich unabhängig von ihren Stichverletzungen in ein Krankenhaus zu begeben, um dort in den Genuss einer so genannten HIV-Postexpositions-Prophylaxe (PEP) zu kommen. Denn ob sich einer infiziert hat, ist vorläufig nicht zu klären – HIV ist keineswegs binnen weniger Tage, meist erst nach drei bis vier Monaten nachweisbar. Die HIV-PEP, das ist ausführlich unter www.nadelstichverletzung.de nachzulesen, muss innerhalb von 72 Stunden nach einer möglichen Infektion begonnen werden. Dieses Zeitfenster allein macht möglich, dass das Virus aus frisch geschlagenen Wunden noch herausgefiltert werden kann: Bei akut offenen Wunden ist es beispielsweise ratsam, die Blutung nicht zu stoppen, sondern sie zu befördern, um das Virus „herauszuspülen“.

Nadelstichverletzungen sind im Klinikalltag nicht ungewöhnlich – aller Routine zum Trotz stechen sich PflegerInnen und ÄrztInnen häufiger, als dies gewöhnlich bekannt wird. Die Wahrscheinlichkeit, per Nadelstich mit dem Blut einer HIV-Infizierten kontaminiert zu werden, ist freilich gering: Norbert Suttorp, Infektiologe an der Berliner Charité, schätzt sie auf etwa 3 Promille – und nur gering höher im Falle eines Messerstichs.

Offen ist nach wie vor, ob das Blut des verletzten Infizierten bereits an der Kleidung der nächsten Opfer abgewischt wurde. HIV-Viren haben an der frischen Luft eine Überlebenschance von nur wenigen Minuten. Die leichte Panik, die im Gefolge des Amoklaufs des Jugendlichen erregt werden konnte, fruchtete bereits: Mehr als 60 Menschen haben sich an der Charité wie am Virchowklinikum gemeldet, um sich testen zu lassen.

Dass dies noch nicht lohne, ist ihnen allesamt erläutert worden: Ein zuverlässiger HIV-Status, positiv oder negativ, ist so früh noch nicht zu eruieren. Die HIV-PEP ist freilich umstritten: Ihre Wirksamkeit ist noch nicht eindeutig belegt – und die Substanzen, die bei dieser Postinfektionsstrategie verabreicht werden, sind noch nicht hinreichend geprüft. Eine andere Strategie zur „Löschung“ einer möglicherweise akuten Infektion gibt es aber nicht – deshalb wird die HIV-PEP von Medizinern favorisiert.Bluttriefende Gefahr?