Langer Marsch der Seuchen

Zu Besuch bei einer Medizinhistorikerin

von Gabriele Goettle

Ortrun Riha, Prof. Dr. med., Dr. phil., Direktorin d. Karl-Sudhoff-Instituts f. Geschichte d. Medizin u. d. Naturwissenschaften, Medizinische Fakultät d. Universität Leipzig. 1965–69 Schillerschule in Schweinfurt, 1969–78 Celtis Gymnasium Schweinfurt. 1978–84 Studium d. Humanmedizin a. d. Bayrischen Julius-Maximilian-Universität Würzburg. 1984 med. Staatsexamen, Approbation als Ärztin. 1984–89 Studium d. Germanistik u. Kunstgeschichte, Uni Würzburg. 1985 Promotion z. Dr. med. („Meister Alexanders Monatsregeln“). 1989 Promotion z. Dr. phil. (Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers „Ring“). 1090 Habilitation f. d. Fach Geschichte der Medizin (Wissensorganisation in medizinischen Sammelhandschriften). 1985–92 wiss. Mitarbeiterin bzw. Privatdozentin am Inst. f. Gesch. d. Medizin, Uni Würzburg. 1992–94 Heisenberg-Stipendiatin am Inst. f. Gesch. d. Medizin d. Georg-August Universität Göttingen. 1994–96 C3-Professorin f. Gesch. d. Medizin am Inst. f. Medizin- u. Wissenschaftsgeschichte d. Medizin. Universität zu Lübeck. Seit 1994 C4-Professorin f. Gesch. d. Medizin, Direktorin d. Sudhoff-Instituts, Uni Leipzig. Frau Prof. Riha ist Mitglied diverser wissenschaftl. Gesellschaften u. Verbände u. Verfasserin zahlr. Schriften u. Beiträge, u. a.; „Aussatz. Geschichte und Gegenwart einer sozialen Krankheit, Sitzungsbericht d. Sächs. Akademie d. Wissensch., math.-nat. Kl., Bd. 129, Heft 5, 2004); „Ethik in der Medizin. Eine Einführung“. Aachen: Shaker 1998; „Die Technisierung von Körper- und Körperfunktion in der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts“, Dresdener Beitr. z. Gesch. d. Technikwissenschaften 29 (ersch. 2005). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Medizin d. Antike u.d. Mittelalters, Medizin i. kulturellen Kontext, Medizin u. Literatur, Frauen- u. Geschlechterforschung, Ethik i. d. Medizin. Ortrun Riha wurde 1959 in Schweinfurt geboren, ihr Vater war Gymnasiallehrer, ihre Mutter Hausfrau, sie ist verheiratet u. hat keine Kinder.

Aussatz, Pest, Cholera, Syphilis, Pocken, Tuberkulose, Spanische Grippe, Diphterie, Aids und ansteckende Tierseuchen wie BSE und Vogelgrippe bedrohten und bedrohen die Menschheit. Kehren die Seuchen zurück? Mitten in unserem hygienisch unbedenklichen und durchgeimpften Europa werden wir zunehmend konfrontiert mit Schreckensszenarien, in denen sich Antibiotika-resistente Krankheitserreger ausbreiten oder eine neue, weltweit grassierende Seuche unausweichlich bevorsteht. Unter den etwa 1.500 Mikroben, die den menschlichen Organismus befallen können, ist das Influenza-Virus eines der gefährlichsten. Wird das Vogelgrippe-Virus weiter mutieren? In Deutschland war der erste Unglücksbote mit der gefährlichen asiatischen Variante H5N1 ein toter Singschwan an der Ostseeküste.

Gegen eine plötzliche Verwandlung einer gesunden und friedlichen Bevölkerung in eine hoch infektiöse und todkranke ist trotz aller Krisenpläne keine moderne Gesellschaft gewappnet. Die Wirtschaftsanalysten wissen das besser als die Politiker. Sie haben bereits das verlustreiche Seuchendesaster durchgerechnet, das Kollabieren von Handel und Börsen sowie den Profit, der durch Medikamente, Impfstoff, Reinigungschemie, Gesundheitswesen und Unterhaltungsentertainment zu erzielen ist. Anfang Mai lief im amerikanischen Fernsehen ein Vogelgrippe-Pandemie-Thriller. Millionen Zuschauer waren geschockt. Das Gesundheitsministerium richtete Hotlines mit speziellen Sprachregelungen ein und suggerierte Kompetenz. Auch bei uns werden zahllose Experten zur Gefahr einer Pandemie befragt, zuverlässige Antworten jedoch erwartet man vergebens. Vorerst jedenfalls scheint die Manipulation schwelender Angst für den politischen Zweck weit mehr zu grassieren als das Virus selbst.

Von Frau Prof. Riha möchten wir erfahren, wie die bereits stattgefundenen Seuchen sich niedergeschlagen haben. Ihr Institut für Geschichte der Medizin befindet sich im ehemaligen Hauptgebäude der Uni Leipzig am Augustaplatz zu Füßen des ehemaligen Wahrzeichens der Alma Mater, dem Uni-Hochhaus (das, nebenbei bemerkt, verkauft wurde). Unter einem tonnenschweren klobigen Karl-Marx-Relief aus Bronze, das von rostenden Stahlträgern gestützt wird, muss man hindurchgehen, ganz gleich, ob man nun fürchtet, erschlagen zu werden von dem Koloss oder nicht. Man betritt eine große Eingangshalle, die in der nüchternen Eleganz der 70er-Jahre erglänzt. In der gläsernen Loge sitzt eine Pförtnerin und gibt Auskunft, mit gelegentlichem Knarren gleiten die Paternoster auf und ab. Nicht mehr lange. Zum 700-jährigen Bestehen der Uni, im Jahr 2009, soll hier ein neues Universitätsgebäude stehen. Bis dahin befindet sich das Institut in den Räumen der ehemaligen Parteileitung, mit Blick auf den Platz. Es ist das älteste Medizinhistorische Institut Deutschlands – gerade ist 100-jähriges Jubiläum. Karl Sudhoff (1853–1938), der spätere Namensgeber, leitete das Institut bis 1925 und war auch der Begründer der Medizingeschichte als wissenschaftliche Disziplin. Frau Prof. Riha empfängt uns in ihrem mintgrün gestrichenen Arbeitszimmer. An der Wand hängt ein schwarz gerahmtes Ölgemälde, das einen freundlich blickenden untersetzten Herrn mit weißem Vollbart zeigt, ein Meter daneben steht derselbe Karl Sudhoff als weiße Marmorbüste mit abweisendem Gesichtsausdruck auf einem schönen alten Holzsockel. Im Bücherregal steht u. a. Sudhoffs Paracelsus-Ausgabe, die Lederrücken hat er schwungvoll selbst beschriftet. Sudhoff war ein passionierter Sammler, das Institut verfügt über eine bedeutende Bibliothek mit über 70.000 Bänden und über eine medizinhistorische Sammlung, die 5.000 Objekte umfasst (beide magaziniert).

Frau Prof. Riha ist es sehr recht, dass wir die Vogelgrippe nicht weiter berühren wollen: „Es ist quasi eine Orakelsache, und ich würde mich aus meiner Warte auf ganz dünnes Eis begeben, wenn nicht mal die Fachleute sich einig sind. Weder die Veterinäre noch die Humanvirologen können derzeit irgendetwas Substanzielles sagen.“ Sie erzählt uns von der Pest: „Die erste große, wirklich ansteckende und tödliche Seuche mit historiografischer Darstellung ist ja die so genannte Pest in Athen, die der griechische Historiograf Thukydides (430–396) beschrieben hat, unter Verzicht auf jeden mythologischen Rückgriff. Als Augenzeuge und mit scharfem Blick für die soziologische Komponente schildert er die Vorfälle im Sommer des Kriegsjahres 430 v. Chr. Die Beschreibung ist nicht lang – knapp sechs heutige Druckseiten –, aber sie lieferte quasi das Modell, muss man sagen, dafür, wie man die Geschichte einer Seuche beschreibt. Welche Epidemie das auch immer war, die Beschreibung der Abläufe lässt ein Muster erkennen, das spätere Chronisten wieder und wieder in ähnlichen Situationen repetierten, bis hin zur Berichterstattung unserer Tage: Geografischer Ursprung und Ausbreitungsweg, die Unerhörtheit der Ereignisse, Hilflosigkeit der Ärzte, Versagen von Religion und menschlichen Bemühungen, Theorie der Brunnenvergiftung, Heterogene und erschreckende Symptomatik der Krankheit, ihr fast immer tödlicher Verlauf (Überlebende sind immun), alle Stände ausnahmslos sind betroffen, Auflösung familiärer und freundschaftlicher Verbindungen aus Furcht vor Ansteckung, Vernachlässigung der Bestattungsriten, Abstumpfung und moralischer Verfall.

Und so ist auch die Historiografie des so genannten schwarzen Todes von 1348. Zuerst stand die Frage, wo es herkommt, wie es sich ausbreitet. Für die Chronisten ist die Pest zum ersten Mal auf der Krim aufgetaucht, im Frühjahr 1347. Sie kommt aber aus Zentralasien, wahrscheinlich über den Handel, mit den Pelzen verseuchter Nagetiere, entlang der Seidenstraße und durch kriegerische Expansionen. Das war aber nicht im Blick Europas, die Krim war quasi der alleräußerste Punkt des Blickfeldes. Gut, und dann hat es sich über den Seeweg ausgebreitet, die Leute sind geflüchtet, brachten die Pest nach Konstantinopel, nach Messina, und auch durch Handelskontakte kam sie im Spätherbst nach Genua, Venedig, Marseille, auf dem Landweg verbreitete sie sich weiter nach Apulien, in die Provence. Und das Jahr 1348 war dann das eigentliche Seuchenjahr mit der größten Ausdehnung in ganz Italien, West- und Mitteleuropa von Südwesten nach Nordosten, 1350 erreichte sie Skandinavien und das Baltikum und selbst Island und Grönland. Und es wurde natürlich vermerkt, soundsoviele starben, soundso waren die Krankheitszeichen. Und was auch in der Geschichtsschreibung von vornherein berücksichtigt wird – bei diesem Typ von Erkrankung –, sind die sozialen Folgen. Also: Auflösung von sozialen Bindungen. Oder Vernachlässigung von Pflichten, vonseiten der Ärzte, der Behörden, der Kirche, denn viele von ihnen haben die Städte fluchtartig verlassen nach dem Ausbruch der Pest. Also solche Entsolidarisierungsaspekte wurden aufgeschrieben. Und natürlich hat man sich mit dem Grund beschäftigt, Pest als ‚Strafe Gottes‘ hat kaum überzeugt, jedenfalls nicht die intellektuelle Elite. Es musste also etwas Säkulares sein, etwas, das alle betrifft, Gottlose und Fromme, Arme und Reiche, Juden und Nichtjuden, das war die Luft, die alle atmen. Die Theorie vom ‚Pesthauch‘ – es gab auch eine astrologische, aber bleiben wir bei der terrestrischen. Die Herkunft des ‚Pesthauchs‘ erklärte man sich im Zusammenhang mit einem ungewöhnlich heftigen Erdbeben, das im Januar 1347 ganz Oberitalien erschüttert hat und noch in Süddeutschland zu spüren war. Man dachte, es seien durch Verwerfungen und aufgerissene Spalten giftige Ausdünstungen aus dem Inneren der Erde freigesetzt worden, die ‚Miasmen‘, die die verheerende Krankheit durch das Einatmen auslösten. Da sichtbar wurde, dass man sich die Pest auch durch den persönlichen Kontakt mit Erkrankten holen kann, lag die Vermutung nahe, dass auch deren Atem solche giftigen Miasmen freisetzt. Das griechische Wort miasma bedeutet ‚Schmutzfleck‘, und die Miasmenlehre, die bis zum 19. Jahrhundert eine große Rolle spielte, geht auf die Antike zurück. Die Vermeidung von Ausdünstungen und ‚schlechter Luft‘ war von großer Bedeutung in der griechischen Heilkunde.

Heute wissen wir, die Pest ist eine bakterielle Erkrankung, sie wird durch Flohbisse übertragen, wobei Nagetiere aller Art, eben auch Ratten als Wirt dienen. Die Krankheitszeichen, die auch immer geschildert wurden, ähneln anfangs einer Grippe mit Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, auch Fieber. Charakteristisch sind dann die ‚Pestbeulen‘ – Lymphdrüsenschwellungen, die vor allem in der Achselhöhle und den Leistenbeugen auftreten, aber auch am Knie – wie beim heiligen Rochus – am Ellenbogen und Hals. Wer Glück hatte, überlebte. Meistens jedoch überschwemmen die Erreger den Organismus. Äußere Zeichen dieser bakteriellen ‚Blutvergiftung‘ oder Pestsepsis sind die schwarzen Hautflecken, die durch Einblutungen ins Unterhautgewebe entstehen, daher die spätere Bezeichnung ‚schwarze Pest‘, ‚schwarzer Tod‘. Zu einer Epidemie wird die Pest, wenn die Krankheit einen anderen Verlauf nimmt und speziell die Lunge befällt, was blutig-schleimigen Auswurf zur Folge hat. Dieser Auswurf ist hochgradig infektiös, diese Ansteckungskette läuft nicht mehr über den infizierten Floh, sondern direkt von Mensch zu Mensch. Die Kranken sterben innerhalb von 3 bis 4 Tagen. Dass sich das, wie die Historiografen beschreiben, auf die Bestattungsriten niederschlug, ist leicht zu verstehen. Für die Begräbnisse von Massen war man logistisch nicht eingestellt – es ist noch die Zeit der Kirchhöfe. Leichen galten ohnehin als giftig, umso mehr fürchtete man sich vor den Leichen der an der Pest Gestorbenen. Sie wurden irgendwo draußen vor der Stadt verscharrt oder in größeren Mengen verbrannt. Beim Verbrennen hat man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Eine der Abwehrmaßnahmen waren ja die Schutzfeuer rund um die Städte, und mit dem Verbrennen der Leichen hatte man, wenn man so will, gleichzeitig den entsprechenden Schutzbrand und den gewünschten Rauch.

Das sind einige der vorhin erwähnten Bausteine, mit denen Seuchengeschichte geschrieben wurde. Auf die anderen werde ich dann im Folgenden eingehen, vorher möchte ich aber noch was zur Organisation insgesamt sagen. Die italienischen Städte sind verwaltungstechnisch mit der Pest besser fertig geworden, sie waren ja bestens organisiert, waren nah an Rom, es gab ein Netz von kleinen Bistümern, da war immer ein Bischof da und in 20 Kilometer Entfernung der nächste. Die Ordnung wurde nach Kräften aufrechterhalten. Natürlich haben die reichen Familien sofort die Stadt verlassen und haben sich auf ihre Landgüter zurückgezogen – wie es Boccaccio in seinem ‚Decamerone‘ beschreibt – aber eine solche Struktur gab es bei uns nicht. Für den nordalpinen Raum, der ja noch sehr unorganisiert war, war es ein Desaster.

Die Bevölkerungsstruktur war grundsätzlich ländlich, und Städte von nennenswerter Größe gab es im Deutschen Reich kaum. Und das musste nun alles organisiert werden, im Hinblick auf Verwaltungsvorschriften, Quarantänemaßnahmen oder auch der Reisepass – er soll auch eine Erfindung des Pestzeitalters sein. Die Verantwortlichen im Rathaus mussten alles in den Griff bekommen, sauberes Trinkwasser, Pflege der Kranken, Beseitigung der Leichen, Seelenmessen, Verhinderung von Plünderungen, Regelung der Versorgung natürlich, Bezahlung der Dienstleistungen, und sie mussten sehen, dass der Arzt und der Pfarrer dablieben. Das sind so die Maßnahmen und Verhaltensweisen, die sich als Konsequenz entwickelt haben. Es heißt, dass nichts die verwaltungstechnische Infrastruktur so vorangebracht hat wie die Pest. Das war die schärfste Zäsur, man kann sagen, das Ende des Mittelalters, sie hat Institutionen hervorgebracht und Institutionen in Frage gestellt. Die Institution der Kirche vor allem, und das hatte frömmigkeitsgeschichtlich enorme Konsequenzen. Wenn die Gnadenmittel der Kirche versagen, wenn die Geistlichen abhauen – beides ist schlecht –, dann führt das einerseits zu einer ‚Verwilderung‘ von Frömmigkeitsbewegungen, wie etwa den ‚Geißler-Zügen‘, vor allem aber zu einer Privatisierung. Was die Kirche ja gar nicht wollte. Man ist jetzt selbst dafür verantwortlich, an sein Seelenheil zu kommen. So eine frömmigkeitsgeschichtliche Konsequenz ist auch der Rosenkranz, seine Multiplikation von Gebeten. Das war eigentlich nicht im Sinne der Kirche, denn das hat Beschwörungszüge, magische Züge. Auch das Aufblühen des Amulettwesens gehört dazu und die Dramatisierung von Heiligenlegenden im 15. Jahrhundert besonders des hl. Sebastian. Eben war er noch Schutzheiliger der Ritter und Kriegsinvaliden und trug eine Rüstung, nun wurde er quasi ausgezogen und von Pfeilen durchbohrt dargestellt und war der Pestheilige. Später kam der hl. Rochus hinzu, der als Pestheiliger sozusagen aus Italien importiert wurde.

Es war eine Zeit der Hochkonjunktur für Heil- und Schutzzauber, für magische Amulette, Scharlatane und Wunderheiler, sie waren wichtiger als das Wirken von ausgebildeten Ärzten und Chirurgen. Und da ist die Frage nach der Hilflosigkeit der Ärzte, was konnten sie tun? Deren Angebot war neben dem Aderlass vor allem das Aufschneiden der Pestbeulen, was nicht ganz verkehrt ist, weil damit ein Einbrechen der eitrigen Lymphknoten in die Blutbahn mit anschließender Sepsis verhindert werden konnte. Das waren so die ersten Maßnahmen bei der ersten Pestwelle, es hat sich aber später nichts Wesentliches geändert. Als Medikament wurde hauptsächlich ‚Theriak‘ verabreicht, beliebt bis ins 20. Jahrhundert – es half tatsächlich gegen alles, indem es durch die darin enthaltenen Opiate die Stimmung hob und Schmerzen dämpfte. Und was die Hygiene betrifft, so war klar, dass man die Kranken isolieren muss, zu Hause oder besser noch in den verwaisten ‚Leprosorien‘, die bis zum Abflauen dieser von den Kreuzfahrern nach Europa mitgebrachten Krankheit zur Isolierung der Aussätzigen dienten. Wenn irgendwo eine Brücke war vor dem Stadttor, dann lag das Leprosorium knapp jenseits der Brücke. In den späten Jahrhunderten hat man dann kleinere Pesthäuser gebaut. Ebenso bekannt war, dass man sich nicht nur vor den Ausdünstungen schützen muss, etwa mit aromatischen Kräutern vor Mund und Nase – so kam dieser lederne Schnabel zustande –, sondern auch die Hände mit ‚Pestessig‘ zu waschen hat, vor und nach jedem Krankenbesuch. Und man hatte diese spezielle Kleidung, die sich überall ähnlich entwickelte – ebenso wie der ‚Peststock‘, den man zum Zeichen dafür trug, dass man Kontakt mit Pestkranken hat – die Kleidung war aus dickem Leinen oder Leder, zum Schutz des Arztes, und er legte sie ab, bevor er das eigene Haus betrat. Man hatte Sorge, den Krankheitsstoff zu übertragen, das Ansteckende, das ‚Kontagium‘, was ja das zweite aus der Antike stammende Modell für übertragbare Krankheiten ist. Heute nennen wir das Kontagium Bakterien oder Viren, aber selbst nach der Entdeckung der Bakterien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die eigentliche Bedeutung dieser Entdeckung nur allmählich durchgesetzt. Die Tuberkulose zum Beispiel, die ‚weiße Pest‘, glaubte man lange Zeit, im Sinne der Miasmenlehre, mit ‚reiner, guter Luft‘ heilen zu können, und die Hygienebewegung meinte, das Kontagium in ungünstiger, beengter und unsauberer Wohnsituation verorten zu können. Aber das nur nebenbei.

Ganz kurz möchte ich noch auf die ‚Brunnenvergiftung‘ kommen, auf die Judenpogrome, die es gab, die aber zu keiner flächenbrandartigen Ausbreitung geführt haben. Weil es einfach nicht plausibel war, die Seuche durch Einzelvergiftung von Brunnen zu erklären. Erstens starben Christen und gleichermaßen Juden an der Seuche, zweitens hatten die Ärzte ihre Theorie von Miasma und Kontagium. Und selbst der Papst hat die Judenpogrome abgelehnt. Wesentlich wirkungsmächtiger als die Sündenbockerklärung war die der Pest als Strafe für sündhaftes Verhalten, gegen die vor allem eine enorme Intensivierung von Frömmigkeit und Bußpraxis hilfreich schien. Und die Sorge, einen Tod ohne Sterbesakramente befürchten zu müssen, war sicher ein zentraler Bestandteil der allgemeinen Todesangst.“

Auf die Frage, wie hoch die Todesrate durch die Pest etwa war, denkt Frau Prof. Riha einen Moment nach und sagt dann: „Die Chronisten schreiben immer von ‚entvölkerten‘ Landstrichen. Es soll angeblich Regionen gegeben haben, wo ihr 30 Prozent der Bevölkerung zum Opfer gefallen sind. Aber ich denke, im Durchschnitt waren es 10 Prozent, das ist schon viel, das ist mehr als die Grippetoten von 1918, auf 10 Prozent wurden die Folgen des Zweiten Weltkrieges geschätzt. Das ist schon Entvölkerung in der Wahrnehmung. Die Pest blieb ja knapp 400 Jahre in Europa und flammte immer mal wieder regional begrenzt auf, zuletzt 1720 in Marseille. Aber wann die tatsächlich letzte war, bilde ich mir ein, die letzte in Europa wahrgenommene Pestwelle war im 18. Jahrhundert in Russland. Und ganz Europa hat mit dem Finger auf Russland gezeigt, dass sie noch mittelalterliche Krankheiten haben, während man sich hier mit Cholera und Pocken herumschlug, das waren sozusagen ‚moderne‘ Krankheiten, die Pest war bereits eine Krankheit des Orients. ‚Im Orient holt man sich die Pest‘, das war so das Image. Das hat auch mit diesem ‚Prestige‘ von Krankheiten zu tun: was ist wo, was ist exotisch, und solche Dinge. Jedenfalls war die Pest für die Wissenschafts- und Medizingeschichte ein großer Einbruch, weil es eine Krankheit ist, die unbekannt war, d. h., man konnte sich nicht auf die Theorien von Alten stützen. Pest war die erste unbekannte Krankheit! Deswegen ist es eine Krankheit ohne Namen, Pest heißt einfach nur ‚Seuche‘ – das ist übrigens ganz ähnlich wie bei Aids, was ‚Aquiriertes Immundefizienz-Syndrom‘ heißt, das ist ja kein Name, das ist so bei jeder Krankheit, sonst wäre man ja nicht krank.

Jedenfalls hat die Pest viel ausgelöst im verwaltungsgeschichtlichen oder im juristischen Bereich oder wie man das nennen soll, sie hat viele gesellschaftliche Veränderungen mit sich gebracht, ganz bestimmt!“

Auf die Frage: „Und was lernen wir daraus?“, sagt Frau Prof. Riha mit überraschender Schärfe im Ton: „Was man auf alle Fälle als Erstes lernt, ist, dass bei diesen einschneidenden Seuchen die verwaltungstechnische Bewältigung wichtiger ist als die medizinische. Die Medizin ist normalerweise individuellen Krankheiten verpflichtet, im Seuchenfall soll sie aber die globale Problematik bewältigen. Dazu ist die Medizin nicht gemacht, das müssen die Verwaltungsleute machen. Seuchen sind ein politisches Problem und untergeordnet ein medizinisches. Man schiebt der Medizin fremde Aufgaben unter, etwa die ‚Triage‘ [stammt aus der Militärmedizin, das Sortieren des „Krankenguts“ im Katastrophenfall durch Ärzte nach der Faustregel, die noch Brauchbaren bekommen höchste Priorität bei der medizinischen Versorgung. Es gibt Kategorien und Sichtung per Schnelltest. Anm. G. G.]. Sie ist demokratisch überhaupt nicht legitimiert nach unserem Verständnis. Ich bzw. der Arzt kann immer sagen: Die kriegen es, die es am nötigsten brauchen! Das ist ein objektives Kriterium. Die Politik weigert sich zu sagen, es kriegen nicht alle. Sie diskutiert nicht über Kriterien bzw. legt pseudowissenschaftliche Kriterien an. Es gibt keine wissenschaftliche Triage. Es gibt nur einen vorgeschobenen Konsens über ‚mehr oder weniger wichtige‘ Notfälle.

Prävention hingegen wird vernachlässigt von der Politik wegen der Kosten. Bei uns hat im Moment auch der Katastrophenschutz kein gutes Prestige. Man setzt einfach die Bundeswehr in Marsch, denn ‚freundlichere‘ und weniger machtbetonte Lösungen hätte man ja vorher üben müssen mit engagierten Bürgern oder auch bei Übungen in der Schule, oder wir machen das nach einem Schneeballsystem. Die Geschichte zeigt aber: Der Bürger wird im Katastrophen- bzw. im Seuchenfall immer entmündigt, er wird zum Objekt der Amtshandlungen gemacht. Ja, es könnte auch anders sein, wenn das ein politisches Ziel wäre, man könnte sagen, wir beziehen den Bürger mit ein in solchen Krisenfällen, und wir geben ihm rechtzeitig Gelegenheit, sich darauf vorzubereiten. Das könnte man doch sagen?!“

Wir gehen nun zum biografischen Teil über und fragen unsere Gastgeberin, was sie eigentlich mal werden wollte. Sie lächelt und sagt: „Ich war ewig lang unentschlossen und habe mich dann für Medizin entschieden, weil ich gedacht habe, da kann ich so viel Diverses hinterher machen, das Spektrum ist ja ganz offen. Aber mein Motiv war nicht das ‚Helfende‘ – das sagen die Medizinstudenten immer zuerst, dass sie studieren, um zu helfen. Merkwürdigerweise ich nicht. Das ist das Interessante. Das habe ich jetzt erst, seit ich Medizingeschichte mache, in der hippokratischen Medizin gemerkt. Mich interessierte immer das Professionelle am Helfen, also das Wissen darüber. Ich bin kein karitativer Typ im Sinne von ‚guter Samariter‘, habe mich aber schon früh mit Medizinethik – Verbindung von Geschichte und Ethik – beschäftigt. Und als ich dann 1996 hierher kam, habe ich auch gleich Ethik angeboten. Das war hoch interessant, die Mediziner sind ausgeblieben, aber von den anderen Fakultäten kamen Studenten: Theologen, Juristen, Politologen, Soziologen … Es ist jetzt für die Mediziner seit zwei Jahren Pflichtfach und heißt: Geschichte – Theorie – Ethik der Medizin, in der Kombination. Aber, wie gesagt, die Mediziner sind nicht scharf auf Ethik, Geschichte spricht sie schon mehr an. Bei Ethik sagen sie, das ist so ein ‚Laberfach‘, was soll’s, bis ich entscheiden muss, hab ich’s vergessen. Und man muss berücksichtigen, sie haben es nicht leicht heute, es gilt nur noch ein Schema: Wann habe ich welches Testat. Die haben gar keine Zeit, sich mal Gedanken zu machen. Und außerdem macht dieses Fach die Sache noch unkalkulierbarer. Die wollen ja gerade Struktur in ihre Gedanken bringen, die wollen nicht, dass einer sagt, überlegen Sie doch mal, ob das überhaupt sinnvoll ist, was Sie da tun?“

Wir fragen nach dem „hippokratischen Eid“, von dem alle, besonders die Patienten, glauben, dass die Ärzte ihn geschworen haben. „Ja, das habe ich jetzt auch wieder gelesen. Der wird nicht geleistet. Nein. Der hat absolut nichts zu tun mit unserer Realität, nicht nur wegen der Leistungsfähigkeit. Die Leute würden sich wundern, das ist ein knallhartes System für Privatpatienten quasi, entweder sie zahlen oder sie kriegen es nicht, fertig! Wenn er keine Kohle sieht, geht der Arzt weg, dann hat er nichts mit der Krankheit zu tun. Dasselbe System sagt natürlich dann auch, wenn er keinen Erfolg hat, muss der Patient nicht zahlen. Aber es sagt nicht, ich werde helfen, und zwar jedem, der mich braucht. Es steht beispielsweise drin: Ich werde keine Geheimnisse verraten, das ist so ein hippokratisches Prinzip, die Schweigepflicht. Oder: Ich werde, auch nicht auf Bitten, kein tödliches Gift verabreichen. Dasselbe gilt für die Verabreichung von Abtreibungsmitteln usw. Also der Eid wird tatsächlich nicht geleistet. Er wurde noch nie geschworen. Außer vielleicht von einer kleinen Ärztegilde in der Antike. Man hat in der Neuzeit, als man sich wieder auf die antiken Schriften besonnen hat, versucht, ihn an einzelnen Universitäten zu etablieren, für die Absolventen quasi im Rahmen einer Feierstunde, das hat sich aber nicht durchgesetzt. Vor allem, weil er eben tatsächlich heidnisch ist. Dieses humane Element der Medizin, dieser Samariter-Aspekt, der war ja noch nicht erfunden in der Antike.

Und das ist dann, wie schon gesagt, der Grund, weshalb junge Leute Medizin studieren in der Regel, sie wollen helfen, möglichst schnell, sie stellen sich dankbare Patienten vor. Aber die Patienten sind nicht dankbar, sie sind unzufrieden, und dann ist man enttäuscht. Dieser Anspruch, mit dem Anfänger kommen, von Ganzheitlichkeit usw., das sind alles romantische Kinderträume. Das merkt man bereits im Studium. Und dann in der Härte des Alltags, denn was man stattdessen macht, ist enorm viel Bürokratie. Und dafür hat man definitiv nicht Medizin studiert. Die Enttäuschung ist absolut enorm. Die Frustration des Alltags, so wie er heute organisiert ist in der Medizin, wird mit jeder noch so großen idealistischen Grundeinstellung fertig. Deshalb kommt auch nur ein Drittel aller Studenten im Arztberuf an. Viele gehen in die Industrie oder auch ins Ausland, wo nicht nur Verdienst und Arbeitszeiten besser sind, sondern auch die Konzentration auf ärztliche Tätigkeiten möglich ist, weil ausgebildete Stationssekretärinnen die bürokratische Arbeit machen, die hier von den Ärzten bewältigt werden muss. Und ein anderer Grund, weshalb so wenige im Arztberuf ankommen, ist der hohe Frauenanteil. Wir haben über 50 Prozent Frauenanteil in der Medizin. Das ist ein hohes Risiko. Weil Frauen diese Motivation des Helfens und der Ganzheitlichkeit, des Gesprächs mit dem Patienten noch viel stärker haben als die Männer. Und wenn sie das nicht vorfinden, wenn dafür gar kein Platz mehr ist, dann steigen sie einfach aus und spielen nicht mehr mit. Lieber gehen sie dann irgendwelchen Teilzeitjobs nach, machen das nur als Job, oder sie machen erst mal Familienpause. Die Frauen wählen sozusagen nicht den Weg in den Zynismus, den die Männer wählen müssen. Zumindest meinen sie, dass sie diesen Beruf so ausüben müssen, aus welchem Grund auch immer. Und die Frauen meinen eben nicht, dass sie ihn machen müssen. Also ich glaube nicht, dass man sich das dauerhaft leisten kann, zwei Drittel umsonst auszubilden.

Aber dazu möchte niemand was hören. Und es ist eben die Imagination von ganz unten bis ganz oben: Die Medizin, so wie sie ist, ist fertig. Und die muss man eben nur noch vermitteln an die Studenten und zukünftigen Mediziner. Aber wir sind jetzt quasi die Anarchisten, die sagen, die Medizin ‚entsteht‘.“