Berlin versteht nur noch Hauptbahnhof

Eine Million Menschen stürmen zur Eröffnung den neuen Bahnhof. Der Zugverkehr am Sonntag läuft fast ohne Probleme an, lediglich einige Rolltreppen streiken

Es ist Sonntag, 12.13 Uhr. Frau Schütz, in Blau-Rot gekleidete Angestellte der Deutschen Bahn AG, steckt sich ein „Fisherman’s“ in den Mund und spült mit Mineralwasser nach. Auf Gleis 11 des neuen Berliner Hauptbahnhofs fährt gleich um 12.14 Uhr der ICE aus Köln ein, „ganz pünktlich“, wie Schütz betont. Die Dame vom Auskunftspersonal ist ein wenig heiser. Als der Zug seine Last ausgespuckt hat, geht es wieder los: „Wie komme ich zum Ausgang oder zur Verbindung nach Senftenberg?“ „Wo fahren die Busse ab?“, oder: „Fährt heute auch das Shuttle zum Südkreuz?“ Es gehe zu wie im Taubenschlag, „tausend Fragen“, sagt sie. „Anstrengend sind manchmal Reisegruppen. Da wollte doch glatt einer, dass ich ein Foto von allen hier auf dem Bahnsteig mit Halle und Berlin als Hintergrund mache. Also nee.“

Am gestrigen ersten Betriebstag des Hauptbahnhofs hat die Bahn ein ganzes Heer von zusätzlichem Auskunfts- und Servicepersonal eingesetzt, um Reisende zu beraten, betont ein Bahnsprecher. Zu Recht, denn die gläserne Zentralstation brummt noch immer wie an den beiden Eröffnungstagen davor.

Besuchermassen verstopfen den Eingang, die Einkaufsgalerien auf der ersten Ebene sind brechend voll, Reisende steuern in Slalomfahrt ihr Gepäck vom tief liegenden Tunnelbahnsteig der Nord-Süd-Strecke an dudelig spielenden Dixibands vorbei hinauf zur West-Ost-Fahrt in der Glasröhre. Die Panoramalifte, dicke Glasröhren zur schnellen Überbrückung der fünf Stockwerke, haben Jugendliche und zahlreiche Schaulustige fest im Griff. Sie machen sich einen Spaß daraus, endlos rauf- und runterzusausen. Wer mitfahren will, um seinen Zug zu kriegen, hat Pech gehabt.

Es herrscht Stau in der großen Halle und auf den Bahnhofsvorplätzen. Halb Berlin ist auf den Beinen, den neuen Bahnhof per Sonntagsspaziergang anzugucken. Die Bahn schätzt, dass gestern erneut eine halbe Million Menschen den Bahnhof besuchte. Dass hier und da einer der Reisenden den Überblick verloren habe, gehöre halt zum Auftakt. „Die neuen Wege müssen sich noch einspielen“, so der Sprecher.

Dass die Bahn AG mit Understatement auf die Bahnhofserstürmung reagiert, hatte mit dem erfolgreichen Betriebsstart zu tun. Ohne nennenswerte Probleme ist der Bahnhof zum Fahrplanwechsel ans Netz gegangen. Ein Oberleitungsschaden zwischen Berlin und Leipzig führte zur längsten Verspätung. Sonst fuhren die Züge meistens im Takt, hier und da erreichten einige mit ein paar Minuten mehr das Ziel „Berlin Hauptbahnhof“. Größtes Ärgernis für Reisende mit Koffern, Kinderwagen oder schweren Beinen war der zeitweilige Ausfall einiger Rolltreppen von der Eingangshalle hinauf zu den Gleisen 9 bis 14. Ein fast ungetrübter Erfolg?

Nicht ganz. Nach der Einweihung am Freitagabend durch Bahnchef Hartmut Mehdorn sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der anschließenden eindrucksvollen Lichtinstallation hatte ein jugendlicher Amokläufer mit einem Messer über 30 Personen in der Nähe des Bahnhofs verletzt. Die Verletzten zählten zu Hunderttausenden, die dem Eröffnungs-Lichtspektakel beigewohnt hatten und nach Hause drängten.

Am Samstag pilgerte ungeachtet dessen fast eine halbe Million Menschen in die gläserne Verkehrsstation. Berliner und Touristen feierten den „Tag des offenen Bahnhofs“, auf dem Washingtonplatz davor fanden Rockkonzerte statt. Mehdorns Besorgnis, „wenn man ein Fest macht, und dann passiert etwas Schlimmes, dann färbt das natürlich auch auf die Stimmung ab“, war zwar nicht weggewischt, aber doch verdrängt.

So auch bei der Auskunftsdame. Sie und 500 Extramitarbeiter werden heute Abend „platt“ nach Hause gehen. „Und nüscht mehr an was denken.“

ROLF LAUTENSCHLÄGER