Öffentlicher Ehebruch in Trunkenheit

Nebenstelle (6): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Vieles schien erwartbar: Noch immer heiraten die Dörfler untereinander und die Ansprüche an die nachbarliche Ordnung sind hoch. Nicht gefasst war Susanne Fischer auf die Fülle von Geschichten

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Auf den ersten Blick ist alles gleich: Fernsehen, Internet, E-Mail, Zeitungen, doch, das gibt es auch in der Provinz. Auf den zweiten ist alles anders – Programmkino? Eine Stunde Autofahrt Minimum, Jazzclubs und Rockmusikschuppen (falls es sowas noch gibt) auch, Museen sowieso. Was wollen Sie, die taz zu ihren Brötchen? Die nächste taz gibt es in 25 Kilometer Entfernung und im Abo kommt sie mit der Post am späten Mittag. Clubs und Partys kenne ich nur noch aus der Zeitung, es sei dann, man meint damit Tennisclubs und Silberhochzeitspartys.

Der Berliner denkt jetzt natürlich, das Leben bei uns sei banaler als sein cooles, ausgefuchstes Städterleben, das stimmt aber nicht, es ist nur anders. Es ist anstrengender, weil die soziale Kontrolle stärker ist und es ist entspannter, weil man mit weniger Leuten zu tun hat, die dauernd, sei es physisch oder verbal, die persönliche Wohlfühldistanz unterschreiten, es ist öder, weil eigentlich nichts passiert und interessanter, weil man – und da ist man ja als Schriftsteller immer im Dienst – viel mehr aus dem Leben der anderen mitbekommt.

So viel bizarre und echt wahre Geschichten wie in meinen zehn Provinzjahren habe ich in 30 Jahren Stadtleben vorher nicht gehört und miterlebt und ich kann sie nur leider nicht in meinen Büchern verwenden, weil sich die Betroffenen sofort wiedererkennen würden. Öffentlicher Ehebruch in Trunkenheit auf dem Billardfilz der Dorfkneipe – das hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt, als ich von Hamburg in mein kleines, langweiliges Heidedorf zog und das war erst der Anfang. Die Themen liegen also sozusagen auf dem Tisch.

Dennoch – in meinem letzten Roman habe ich die Protagonistin nur ihre Jugend in der Provinz verbringen lassen, als Erwachsene zog sie dann doch lieber nach Hamburg. Ich denke, das liegt daran, dass Arno Schmidts provinzverliebtes Diktum „Wir sind hier nicht modern!“ trotz aller medialen Gleichschaltung der Republik in kleineren Gemeinden immer noch gilt – die Gesellschaft ist auf dem Dorf anders organisiert, alle Segnungen der Moderne wie MP3-Player und Arbeitslosigkeit kommen irgendwann zwar auch hier an, werden aber anders verarbeitet.

Immer noch sind drei Viertel der Dorfbewohner miteinander verwandt, immer noch hilft man seinem Nachbarn, immer noch erwartet man, dass jeder seinen Vorgarten jätet und Gardinen vor den Fenstern hängen hat und immer noch klappt das alles im allgemeinen ganz gut und ist deswegen literarisch nur mäßig interessant, außer an den Stellen, wo es nicht klappt, die aber leider unverwertet bleiben müssen, weil ich ja noch länger hier leben will.

Dass dagegen in der Stadt überhaupt nichts klappt, weiß ich zugegebenermaßen nur aus der Zeitung, glaube das aber wie alle meine Mitdörfler unbesehen und sofort. Es drängen sich also in der Provinz andere Themen auf, Billardtische haben mich früher eher nicht so interessiert. Aber wer beispielsweise einen Roman über Friedrich den Großen schreiben will, kann das in Berlin oder in der Provinz tun. Recherche und Kontakt zu den Kollegen stellen per Telekommunikation schon längst kein Problem mehr dar, wenn vielleicht auch ein Stammtischbesuch netter wäre als der Verkehr per Elektropost.

Was, und das hängt damit zusammen, wirklich für mich als Schriftstellerin anders wurde nach dem Umzug in die Provinz: Ich habe mehr Zeit zum Schreiben als früher, obwohl ich noch einen anderen Beruf ausübe und inzwischen auch eine Familie habe. Die Ablenkungsmöglichkeiten auf dem Land sind stark reduziert, jedenfalls, wenn man nicht gerne fernsieht, Auto fährt oder sich betrinkt.

Mag sein, dass andere Autoren nur im Stimmengewirr des Caféhauses oder in ihrer Lieblings-Cocktailbar zu inspirierter Hochform auflaufen, ich dagegen verfasse diesen Text auf meiner Terrasse im Liegestuhl mit Blick auf meinen Badeteich – eine Schreibumgebung, die ich zwischen Alster und Stadtpark bestimmt nicht hätte und die meine Texte so überaus entspannt daherkommen lässt. Denn das ist das wahre und gut gehütete Geheimnis der Provinz: Wir leben einfach besser als ihr und – Moment, wer sitzt denn da bei der Nachbarin? Den kenne ich ja gar nicht! Und wo ist eigentlich ihr Mann …?SUSANNE FISCHER