Eine verschleierte Bluttat

US-Soldaten haben im Irak 24 Menschen erschossen. Manche mit Kopfschüssen, andere mit Schüssen in Brust oder Rücken

„Jedes Mal, wenn so etwas geschieht, erleiden wir einen Rückschlag. Dies ist schlimmer als Abu Ghraib“

AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF

Das Töten begann um 7:15 Uhr. Der Subhani Distrikt in der irakischen Stadt Haditha wachte gerade auf, als eine Straßenbombe, gezündet von Aufständischen, explodierte und den vorbeifahrenden US-Obergefreiten Miguel Terrazas aus Texas tötete. Es war der 19. November 2005. Kurze Zeit später soll eine Hand voll Marines, geführt von einem Sergeant, der ihr Truppenführer war, ein Massaker unter irakischen Zivilisten angerichtet haben. Vielleicht sei es das schlimmste Kriegsverbrechen, das US-Soldaten innerhalb der vergangenen drei Jahre im Irak begangen hätten, spekulierte am Wochenende die Tageszeitung Washington Post: Angehörige des Marine Corps, das als Eliteeinheit gilt, sollen 24 Menschen kaltblütig erschossen haben.

Die Untersuchung des Falls steht vor dem Abschluss, und längst ist klar, dass es dabei nicht nur um die Frage geht, was an dem Morgen in der Wüstenstadt nordwestlich von Bagdad tatsächlich passierte, sondern auch darum, dass die Soldaten und die Armee die Tat im Anschluss offenbar verschleierten. Das US-Nachrichtenmagazin Time veröffentlichte einen ersten Bericht über das Massaker im März, in dem es sich auf irakische Menschenrechtler und Augenzeugen berief. Diese stellten die offizielle Armeeversion eines tödlichen Sprengsatzes infrage.

Nach Angaben weiterer vier Überlebender, mit denen kürzlich unter anderen die New York Times sowie britische Zeitungen sprachen, sollen die Marines nach dem Tod ihres Kameraden in ein Haus eingefallen sein, aus dem sie Schüsse gehört haben wollen. Es war das Haus von Abdul Hamid Hassan Ali, einem 77-jährigen Iraker, der nach einer Amputation im Rollstuhl saß. Bei ihm lebten mehrere Verwandte, wie es in dem Bericht hieß. Die Schwiegertochter Hiba Abdullah und ihre damals fünf Monate alte Nichte überlebten die Schießerei, weil Hiba mit dem Baby aus dem Haus rennen konnte. Als sie später zurückkehrte, waren alle sieben Verwandten, darunter ein vierjähriges Kind und ihr Ehemann, tot.

Erst später erfuhr sie, dass eine neunjährige Nichte und deren jüngerer Bruder unter einem Bett versteckt, aber verwundet überlebt hatten. Beide Kinder wurden später in einem Krankenhaus wiedergefunden. Im Nachbarhaus schossen die Marines unmittelbar danach auf ein Paar und seine sieben Kinder, in Küche und Bad warfen sie Handgranaten. Unter den Toten sind ein einjähriges Mädchen und ein achtjähriger Junge – nur eine 13-Jährige überlebte, indem sie sich tot stellte, das Gesicht mit dem Blut der toten Mutter beschmiert.

Die Elitesoldaten seien weitergezogen in ein drittes Haus, in dem vier Brüder lebten, hieß es in den Berichten. Die Soldaten hätten zwei Ehefrauen der Brüder hinausgetrieben, die Frauen fanden später alle vier Brüder tot. Insgesamt erschossen die US-Soldaten in den Häusern 19 Menschen, manche mit einem einzigen Kopfschuss, andere mit Schüssen in die Brust oder den Rücken. Auch ein Taxifahrer und seine vier Fahrgäste hatten keine Chance, als sie vor dem Haus anhielten. Der Fahrer habe noch versucht, schnell zurückzusetzen, als er das von dem Sprengsatz zerstörte Armeefahrzeug und die Soldaten gesehen habe, aber er war nicht schnell genug: Die Soldaten erschossen auch ihn und die vier jungen Männer im Taxi. Die Soldaten sollen die Leichen der 24 Iraker ohne Erklärungen in einem Krankenhaus von Haditha abgeliefert haben. Ein junger irakischer Journalist machte Fotos von den Leichen, als sie bereits in Plastiksäcken verpackt waren. Wie US-Zeitungen berichteten, soll die Terrororganisation al-Qaida Abzüge von den Bildern gemacht haben, um sie zu Propagandazwecken an muslimische Geistliche in Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien zu schicken.

Wie die Washington Post unter Berufung auf Ermittlungskreise berichtete, müssen mehrere Elitesoldaten mit einer Anklage wegen Mordes, Vertuschung und Pflichtverletzung rechnen. So heikel scheint der Vorfall für die Armee zu sein, dass General Michael Hagee, der Kommandeur des Marine Corps, am Donnerstag persönlich in den Irak reiste und seine Truppe daran erinnerte, dass es zu ihren Pflichten gehöre, das Leben von Zivilisten zu schützen.

In Washington wird damit gerechnet, dass es im Fall Haditha zu einer Anhörung im Kongress kommen wird. Eine Untersuchung solle die Rolle der US- Soldaten in der Sache klären, forderte der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im US-Senat, John Warner, am Sonntag in einem Interview mit dem TV-Sender ABC. Der Ausschuss werde prüfen, „was und wann es passiert ist“ und ob die Vorgesetzten der beschuldigten Soldaten angemessen darauf reagiert hätten, betonte der Republikaner. Laut Militärangaben gab es lediglich 15 Opfer. Ein Armeesprecher sagte, dass es den verdächtigten Marines gegenwärtig verboten sei, ihre Basis zu verlassen.

Der einflussreiche demokratische Abgeordnete John Murtha warf den Streitkräften Vertuschung des Massakers vor. „Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Militärs versucht haben, die Affäre zu vertuschen“, sagte Murtha am Sonntag dem Fernsehsender ABC. Die erste Version habe gelautet, die Iraker seien durch Sprengsätze ums Leben gekommen. Ermittler seien gleich am Tag nach dem Massaker vor Ort gewesen, aber niemand habe etwas gesagt – bis März, als das Time-Magazin die Sache ans Licht gezerrt habe. So lange hätten alle geschwiegen, meinte Murtha. Die Geschehnisse erschwerten es den USA, ihre politischen Ziele im Irak durchzusetzen, sagte der Abgeordnete. „Jedes Mal, wenn so etwas geschieht, erleiden wir einen Rückschlag. Dies ist schlimmer als Abu Ghraib.“