Mit Habermas über die Straße

Bohmte ist ein Straßendorf im Osnabrücker Land – das ist das Problem. Die Lösung kommt aus Holland, nennt sich „shared space“ und ist so etwas wie die Diskursethik des Verkehrs: Autoritäre Schilder werden durch Mitdenken ersetzt

von Benno Schirrmeister

Bohmte könnte ein Ortsname in einem 70er Jahre Kinderbuch sein, mit idyllischen Bauernhöfen und leicht antiautoritär angehauchter Tierpopulation. Aber Bohmte gibt es wirklich. Es liegt im Osnabrücker Land und wie überall in der Wirklichkeit gibt es auch hier Probleme. Ein Symptom dafür ist, dass mittags niemand auf der Straße zu sehen ist. Okay, die Cafés haben Stühle rausgestellt. Die sind aber leer. Und drei, vier Schulkinder huschen gezwungenermaßen vom Unterricht nach Hause. Keine Spur aber von den übrigen 13.263 Bohmterinnen und Bohmtern.

Die Probleme in Bohmte heißen L 85, L 81 und K 401 und wenn sie zusammen kommen, heißen sie: Bremer Straße. Die Bremer Straße wiederum, und da wird die Sache vertrackt, war vor fast 1.000 Jahren die Ur- und Keimzelle des Örtchens. Das ist nämlich entlang der Bremen-Osnabrücker-Handelsroute gebaut worden und irgendwann ist auch eine Ost-West-Achse dazu gekommen, die Minden und Espelkam mit den Niederlanden verbindet und für die es keine Entlastungsstraße gibt. Also passieren massenweise Pendler das Straßendorf, Busse kommen im großstadtverdächtigen Sieben-Minuten-Rhythmus, und vor allem: Der ganze Schwerlastverkehr, der rußt, staubt und nicht einmal für’n Kaffee und ’n Brötchen stoppt. Bohmtes Problem ist also ziemlich grundsätzlich.

Die gute Nachricht: Jetzt hat man auch eine Lösung dafür. Die Lösung hat den Rang und die Zusatzmittel eines EU-Projekts, kommt aus den Niederlanden und ihr Erfinder Hans Monderman ist dort 2005 zum „Innovator des Jahres“ gekürt worden wegen seines Verkehrskonzepts „shared space“. Den Kontakt habe ein Bremer Ingenieurs-Büro hergestellt, bei dem sich Bohmte schon länger wegen seiner 1.000 täglichen Laster Rat holt, aber im Grunde sei man zu „shared space“ gekommen „wie die Jungfrau zum Kinde“, sagt Bürgermeister Klaus Godejohann. Inzwischen hat die Jungfrau allerlei Geburtsvorbereitungskurse besucht: Vierteljährlich hat es Einwohnerversammlungen gegeben, 40 bis 50 Bürger sind immer gekommen – ein stattlicher Schnitt. Schließlich gehe es um die „städtebauliche Entwicklung der nächsten 20 bis 30 Jahre“, sagt Godejohann, und die gehe alle an.

Das passt zu Mondermans Konzept. Es ist für den Straßenverkehr ungefähr das, was Habermas’ Philosophie für die Ethik ist. Kurz gesagt läuft es darauf hinaus, dass man keine Verkehrsschilder braucht, um rücksichtsvoll zu fahren. Die durch die Komplettausschilderung hergestellte Sicherheit ist nämlich nur eine scheinbare. Sie betäubt das Mitdenken, kann sogar aggressiv machen. Gespräche und Vernunft sind besser als Gebote – das ist schon die These der Diskursethik. Hans Monderman setzt auf den Blickkontakt und den räumlichen Eindruck. „Bei einer Ortsdurchfahrt“, sagt er, müsse man das Gefühl haben, „als fahre man über einen Schulhof“.

Shared space – geteilter Raum – heißt das Konzept, weil es die Straße als Raum für alle begreift, ohne an den Rand gequetschten Bürgersteig und Schmalspurradstreifen. Der Effekt: Alle passen auf alle auf. Weil alle mit allem rechnen muss. Anders als Habermas ist Monderman aber Praktiker und seine Theorie funktioniert auch in der Wirklichkeit: Im Örtchen Drachten, das kaum größer ist als Bohmte, hat er sie zuerst erprobt, vor 20 Jahren schon. Mit bleibendem Erfolg. Das Unfallaufkommen hat sich um mehr als die Hälfte reduziert.

Bis zur großen Schilder-Demontage in Bohmte wird es allerdings dauern. Nach dem Sommer sollen die zwei Hauptkreuzungen in Angriff genommen werden: Neuer, roter Belag, ein Kreisverkehr und eine Blumeninsel und 60 Prozent Schilder weniger. Bauschluss ist 2008 . „Dann läuft das EU-Projekt aus“, so Godejohann. Wenigstens der Schwerlastverkehr soll dann nur noch mit Tempo 30 durch’s Örtchen zuckeln oder besser: sich andere Wege suchen.

Idyllisch wäre man in Bohmte nämlich schon gern.