Gewaltig am Thema vorbei

Die Debatte über Gewalt an Schulen führt in die Irre: Sie befasst sich zu wenig mit den wirklichen Gründen, so Experten. Nicht Migranten, sondern soziale Not und Medieneinflüsse seien die Ursachen

Von Alke Wierth

Schüler, die wirklich lernen wollten, schicke er in die Bibliothek, erzählt ein Hauptschullehrer hinter vorgehaltener Hand. In seinem Klassenzimmer ist es zu laut, um sich mit Unterrichtsinhalten zu befassen: Renitente Schüler machen dort vernünftiges Unterrichten unmöglich.

Berichte über zunehmend aggressive, gar gewalttätige Schüler, über Angriffe auf MitschülerInnen und Lehrer, über Messer und sogar Schusswaffen, die in die Schulen mitgebracht werden, häufen sich derzeit. Selbst Grundschulen klagen über wachsende Gewalt. Erst am Montag hat ein zwölfjähriger Grundschüler eine Lehrerin auf dem Schulhof krankenhausreif geschlagen.

Etwas hat sich verändert an Berlins Schulen. Um eine bloße Zunahme von Gewalttaten geht es dabei aber nicht. Die lässt sich auch nicht eindeutig belegen: Die Statistik über Gewaltvorfälle an Schulen verzeichnet zwar ein Wachstum von 422 Fällen im Schuljahr 2002/03 auf beinahe 900 in 2004/05. Dies sei nach Ansicht der Schulverwaltung allerdings eher auf gesteigerte Sensibilität als auf eine Zunahme von Gewalt zurückzuführen: Die Schulen meldeten Vorfälle häufiger als früher. Eine Analyse des Bundesverbandes der Unfallkassen widerlegt gar ein Anwachsen. Die Kassen erfassen alle Fälle von Gewalt an Schulen, die eine ärztliche Behandlung notwendig machen. Bundesweit sind diese von 1993 bis 2003 von 15,5 auf 11,3 Fälle pro tausend Schüler zurückgegangen.

Nicht mehr, aber härter

Verändert habe sich eher die Qualität als die Quantität der Gewalt, meinen Experten: „Es gibt heute unter den Schülern härtere Fälle als früher“, sagt Mario Dobe, Landesvorsitzender des Ganztagsschulverbandes und Leiter einer Kreuzberger Grundschule. Dies gelte auch für die Grundschulen: „Prügeleien und Machtkämpfe gab es immer. Doch es gab eine Grenze“, so Dobe. „Wenn einer am Boden lag, war Schluss.“ Heute dagegen habe man den Eindruck, werde dann erst richtig zugetreten.

Das Sozialverhalten der Schüler hat sich verändert, bestätigt auch Norbert Gundacker, Leiter der Fachgruppe Hauptschulen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Hauptschulen waren immer Problemschulen“, sagt Gundacker, der selbst seit zwanzig Jahren Hauptschullehrer ist. Verändert habe sich der Lebensalltag der Kinder: Eltern, die teils seit Jahren ohne Beschäftigung zu Hause säßen; Familien, in denen tätliche oder verbale Gewalt an der Tagesordnung sei; Kinder, die ihre Freizeit nur mit Fernsehen, Internet, Computerspielen verbrächten – an vielen Hauptschulen sei dies Realität, meint Gundacker: „Früher nannten wir Problemeltern die, die uns aufforderten, ihre Kinder zu schlagen, wenn sie Schwierigkeiten machten. Heute haben wir es mit Eltern zu tun, die sich um Erziehung gar nicht mehr kümmern.“

Fernsehen, vor allem aber Computer und Internet, übernähmen die Ersatzfunktion. „Neue Medien und technische Entwicklungen wie Computerspiele und Fotohandys haben auf die Dimension von Jugendgewalt großen Einfluss“, meint Frank J. Robertz. Der Kriminologe und Sozialpädagoge leitet das Institut für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie (IGaK), das an Schulen und in Gefängnissen Antigewalttraining mit Jugendlichen durchführt. Auch führe die „extrem schlechte soziale Situation“ in manchen Stadtvierteln zu zunehmender Aggressivität: „Es ist aber falsch, wenn in Debatten wie um die Rütli-Schule der Eindruck entsteht, Ursache der Gewalt seien Migranten“, meint Robertz. Die seien in sozial benachteiligten Gebieten einfach stärker vertreten.

Viele Pauschalurteile

Wie beispielsweise Celal Altun, Generalsekretär der Türkischen Gemeinde Berlin. Er ärgert sich darüber, dass in der Debatte um Gewalt an Schulen pauschal den Migranten die Schuld zugewiesen wird. Seit 40 Jahren wohnt der 47-jährige studierte Kaufmann in Kreuzberg. Früher ging er hier zur Schule, heute tun das seine Kinder. „Natürlich gibt es an den Schulen hier Probleme“, sagt Altun. An die 60 Prozent der Menschen in seinem Wohngebiet seien arbeitslos, „und für die Integration der vielen geduldeten Flüchtlinge hier ist nie etwas getan worden“. Durch die Abwanderung gebildeter und gutsituierter Familien würden die Probleme weiter verstärkt, sagt der Kreuzberger: „Das ist ein Kreislauf.“ An den Schulen gebe es zwar mittlerweile einige gute Projekte, meint Altun: „Aber nie genug Geld und Zeit.“

Inge Hirschmann, Vorsitzende des Berliner Grundschulverbandes und Leiterin einer Kreuzberger Grundschule, fordert deshalb Stützsysteme wie Sozialarbeiter oder Schulstationen. Gerade Grundschulen in sozialen Brennpunkten bräuchten dies, meint sie. „Sonst ist beim Eintritt in die Oberschule das Kind schon in den Brunnen gefallen.“ Und Kriminologe Robertz plädiert für neue Schulfächer an den Oberschulen: „Soziales Lernen, vor allem aber Medienpädagogik“ müsse an den Schulen unterrichtet werden. Doch viele Schulen, so seine Erfahrung, scheuten bisher die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt – vor allem aus Angst um ihren Ruf. Bei aller Aufregung liege deshalb in der derzeitigen Debatte auch eine Chance, meint Robertz.