Nackig gesehen

Ob an Marlon Brando oder Muhammad Ali: Die Brüder Albert und David Maysles gingen nah ran. So machten die „Direct Cinema“-Pioniere vor, was als Homestory oder Langzeitdoku heute im TV läuft

VON BERT REBHANDL

In einem noblen Hotel in New York stehen die Journalisten Schlange. Es gibt Interviews mit Marlon Brando. Im Zehnminutentakt werden die Damen und Herren vom Fernsehen durchgewunken. Jovial scherzt der Star mit den älteren Herren. Wenn ihm eine junge Frau gegenübersitzt, wird er sofort anzüglich. Es ist das Jahr 1965. Brando macht Werbung für den Film „Morituri“, ein Kriegsdrama von Bernhard Wicki.

Während der Interviews läuft immer noch eine weitere Kamera mit. Sie gehört den Dokumentarfilmern Albert und David Maysles, die aus dem Material schließlich ein halbstündiges Porträt gemacht haben: In „Meet Marlon Brando“ zeigen sie ein Idol auf dem Höhepunkt der Selbstbezüglichkeit. Brando diktiert den Medien die Bedingungen, er suggeriert selbst die Fragen, die er dann ohnehin nicht beantwortet. Einem Kompliment begegnet er süffisant: „Sie sollten mich nackt sehen. Ich fange an, fett zu werden.“

Albert und David Maysles geht es mit ihrem Film nur in zweiter Linie um den Star Brando – vielmehr zeigen sie das gut funktionierende Zusammenspiel der Medien während des Werbefeldzugs für einen Film. Der Angelpunkt dieses Mechanismus ist Brando, der über allem und auch über „Morituri“ steht. Dieses Phänomen an Überlegenheit wird von den Maysles-Brüdern kritisch hinterfragt und schließlich als Produkt sichtbar – ein Interview nach dem anderen, und Brando macht sich selbst. Mit diesem Blick hinter die Kulissen des Showgeschäfts standen die Maysles-Brüder in bester, damals noch ganz junger Tradition des „Direct Cinema“. Mit der Entwicklung neuer, leichter Kameras und der direkten, synchronen Tonaufnahme machte das Kino in den Sechzigerjahren einen Riesensprung. Filmemacher konnten nun viel unmittelbarer am Geschehen sein, sie konnten flexibel auf Situationen reagieren und sich selbst weitgehend unsichtbar machen.

Die Brüder Maysles, von denen das Arsenal ab heute eine Auswahl von sieben Filmen zeigt, gehören zu den Pionieren dieses „Direct Cinema“ in den USA. Ein Jahr nach „Meet Marlon Brando“ drehten sie das Porträt eines umstrittenen Schriftstellers: „With Love from Truman: A Visit with Truman Capote“ folgt einer Reporterin von Newsweek, die ihrerseits Truman Capote in sein Landhaus begleitet, weil sie einen Artikel über ihn schreiben will. Capote war zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seines Ruhms. „Kaltblütig“, die halb fiktionale Schilderung eines Aufsehen erregenden Mordfalls, gehört heute zum Kanon der amerikanischen Literatur.

Die Maysles-Brüder zeigen in ihrem Film, wie Truman Capote sich von Beginn an selbst als Medienprodukt begriffen und inszeniert hat. Er zieht für die Journalistin eine Show ab, zu der auch der Zutritt in seine privaten Gemächer, die verschwörerische Offenlegung gewisser Geheimnisse und der Flirt mit der eigenen Exzentrizität gehört. Philipp Seymour Hoffman, der für seine Darstellung in dem Film „Capote“ in diesem Jahr gefeiert wurde, hat den Film von Albert und David Maysles offensichtlich genauestens studiert.

Wie in Deutschland auch, wo Klaus Wildenhahn der wichtigste Pionier des dokumentarischen Kinos wurde, war das „Direct Cinema“ eng mit dem Fernsehen verbunden. Die Filme der Maysles-Brüder liefen anfangs als nachmittägliche Bildungsformate – auch wenn es sich um so populäre Themen wie die Vorbereitung von Muhammad Ali und Larry Holmes auf einen WM-Boxkampf handelte. 1968 drehten Albert und David Maysles (zusammen mit Charlotte Zwerin) dann einen abendfüllenden Film: „Salesman“ handelt von vier Männern, die von Tür zu Tür gehen und Bibeln verkaufen. Sie haben Spitznamen wie „der Hase“ oder „der Stier“. Auch wenn sie nur bei Adressen anklopfen, die vorher mit einem Pfarrer abgesprochen sind, haben die Männer einen schweren Stand. Die Bibel mag ein Bestseller sein, aber die meisten Leute haben andere Prioritäten, manche „stehen bis zum Hals in Rechnungen“.

„Salesman“ zeigt jenes Amerika, das jeder Politiker erreichen muss, wenn er ein Amt anstrebt. Die Bibelverkäufer betätigen sich, ohne dass es ihre eigene Absicht ist, als Stimmungsvermesser im Land. Die Maysles-Brüder haben später ihre Beobachtungsstrategien in verschiedene Richtungen hin verfeinert. So zeigen die sieben Filme im Arsenal eindrücklich, dass „Direct Cinema“ am Anfang vieler heute sehr alltäglicher Medienformate steht – vom Starporträt bis zur Homestory, von der Langzeitdoku bis zum Hintergrundbericht.

Bis 8. 6. läuft täglich ein Maysles-Film im Arsenal am Potsdamer Platz