Ein gepresstes Flüstern

Eine Chronik des Schreckens: Paul Greengrass’ Spielfilm „Flug 93“ rekonstruiert behutsam, ohne Heldenlegenden, was in dem Flugzeug geschah, das am 11. September 2001 von Terroristen gekapert wurde und auf einen Acker in Pennsylvania abstürzte

von ANDREAS BUSCHE

Pietät und Anstand gehören nicht zu den Werten, die der Hollywood-Film für sich proklamiert. Überraschen muss diese Feststellung nicht, wäre in den letzten Jahren nicht zu beobachten, dass die Toleranzschwelle gesellschaftlicher Gruppierungen für die Zumutungen, die das Bildmedium Kino bereithält, sinkt. Im postironischen Zeitalter scheint sich garantiert immer irgendjemand von irgendjemandem auf den Schlips getreten zu fühlen; das Beleidigte-Leberwurst-Spielen gehört inzwischen zum festen Repertoire der Kinorezeption. Interessanterweise nimmt die allgemeine Aufgeregtheit im selben Maße zu, wie die Stoffe banal werden, wie die Diskussionen um Filme wie „Die Passion Christi“, „Die Geisha“ oder „Der Da Vinci Code“ zeigen. Den Verleihern kann das nur recht sein. Schlechte Presse ist immer noch besser als gar keine.

Nun sind Pietät und Anstand, ehrlich gesagt, auch keine Werte, die die Filmkritik für sich in Anspruch zu nehmen hat. Das Schreiben über Film hat im schnelllebigen Tagesgeschäft längst jene „theologischen“ Weihen verloren, die Kritiker wie André Bazin oder in Deutschland Frieda Grafe ihm einst überantworteten. Das Salbungsvolle ist purem Pragmatismus gewichen. Mit Paul Greengrass’ „Flug 93“, der heute in den deutschen Kinos startet, scheint das Sprechen über Pietät allerdings wieder nötig zu sein, wie nicht nur die im Vorfeld bekundeten Proteste gegenüber dem ersten einer Reihe von geplanten 9/11-Kinofilmen (Oliver Stones „World Trade Center“ steht bereits in den Startlöchern) gezeigt haben.

In Amerika waren die Lager sehr klar umrissen. Die einen meinten, eine filmische Umsetzung der Geschehnisse des 11. September 2001 wäre auch nach fünf Jahren noch verfrüht (auch dahingehend bemerkenswert, dass sich zuvor kaum Protest gegen die Ausstrahlung der zwei Fernsehfilme, von denen sich einer bereits mit dem Flug United Airlines 93 beschäftigte, geregt hatte); die anderen legten sich mächtig ins Zeug, um klarzustellen, dass es eine Bürgerpflicht sei, sich „Flug 93“ im Kino anzusehen.

Greengrass’ Film erzählt die Geschichte des Flugzeugs United Airlines 93, das am 11. September unter zunächst mysteriösen Umständen auf einem Acker in Pennsylvania abstürzte. Die Legende von United 93 spielte in der von der Bush-Regierung verbreiteten Version der Ereignisse eine zentrale Rolle: als patriotisches Heldenstück. Eine Gruppe aufrechter Amerikaner, die sich dem Feind auf Kosten des eigenen Leben entgegenstellten, um das Weiße Haus vor dem Angriff böser Islamisten zu verteidigen. Das amerikanische Selbstverständnis beruht im Grunde ja auf solch einem Alamo-Mythos. Die 9/11-Kommission und die Blackbox-Aufnahmen, die auch Greengrass als Quellen dienten, haben diese Version entkräftet.

Greengrass ist hoch anzurechnen, dass er unter diesen Umständen einen kühlen Kopf bewahrt hat. Die Pietät gebietet es, die Opfer des 11. September nicht in den Dienst eines dubiosen nationalen Selbstfindungsprojekts zu stellen. Soweit sie ihm zur Verfügung standen, hält sich der Regisseur an die Fakten. Wo er in die Grauzone der Spekulation vordringt, verhält er sich entsprechend zurückhaltend. Der hemdsärmelige Kampfschrei „Let’s Roll“, der in der Post-9/11-Ära auch die amerikanische Politik begleitete, ist bei ihm ein gepresstes Flüstern; die „Bürgersoldaten“, wie Tom Ridge, der ehemalige Chief of Homeland Security, die Passagiere von „United 93“ nannte, sind von Angst und Panik getrieben – alles andere als Helden.

Was Greengrass mit „Flug 93“ vorlegt, ist eine Chronik des Schreckens, die den Konventionen des Katastrophenfilms verpflichtet ist, ohne sich seiner abgegriffenen dramatischen Mittel zu bedienen: minutiös (in Echtzeit) aufgearbeitet, mit enervierender Handkamera quasidokumentarisch gefilmt, minimalistischem Soundtrack, Schwarzbild statt Explosion, keinen Identifikationsfiguren. Die Passagiere bleiben ein abstraktes Kollektiv. Durch die Parallelhandlungen im Kontrollraum der amerikanischen Flugüberwachung in Virginia, dem Luftverteidigungszentrum NORAD in New York und dem Hauptquartier der Flugadministration FAA nimmt er dem Drama darüber hinaus das Klaustrophobische – nicht ohne kritische Seitenhiebe auf die Inkompetenz der Behörden. Politisch bleibt Greengrass rücksichtsvoll; „Flug 93“ ist nicht der Ort für eine Fundamentalkritik.

Konzipiert als cineastisches Mahnmal (die Schrifttafel „Amerikas Krieg gegen den Terror hat begonnen“ wurde in letzter Minute gegen ein „Gewidmet allen, die am 11. September ihr Leben verloren“ ausgetauscht), verweigert sich Greengrass’ Film notwendigerweise allen drängenden Fragen. Aber wer Antworten sucht, tut dies sowieso besser nicht im Kino. Man muss „Flug 93“ zuallererst als Mittel der Selbsttherapierung verstehen. Konfrontation statt Erkenntnis. Zu mehr ist Amerika scheinbar noch nicht bereit. Es müssen andere kommen, die wirklich heiklen Fragen zu stellen.

„Flug 93“. Regie: Paul Greengrass. Mit David Alan Basche, Liza Colon-Zayas u. a. USA 2006, 90 Min.