in fußballland
: Läufer, Stürmer, Schmäh

CHRISTOPH BIERMANN über die Fans auf der Friedhofstribüne des Sportklubplatzes im Wiener Stadtteil Hernals

Zum Ausflug in die bessere Welt sollte man die Straßenbahn nehmen oder die Tram, wie der Wiener sagen würde. Sie schlängelt sich aus der Innenstadt in Richtung 17. Bezirk, und wenn man an der Haltestelle Hernals aussteigt, leuchtet einem schon einer der Flutlichtmasten den Weg zum Stadion. Es steht diesem Mast nur ein zweiter gegenüber, aber gleißender muss die Beleuchtung an dieser Stelle auch nicht sein, denn beim Wiener Sportklub in der Regionalliga Ost geht es gemütlich zu.

„Die Patina hat in der europäischen Geistesgeschichte stets Fürsprecher gefunden“, schreibt der norwegische Autor Vettle Lid Larssen. „Nicht nur die Romantiker verehrten das Überwucherte, Verbrauchte, Organische. Die Zeit selbst ist immer als Wert empfunden worden. Dass etwas alt war, verlieh ihm eine gewisse Qualität. Ein Werk, ein Gebäude, ein Mensch hatte seinen eigenen Wert – und außerdem den Wert, den die Zeit hinzutat.“ Auch in einem Fußballstadion kann die Zeit etwas hinzutun. Seit 1904 wird auf Sportklubplatz Fußball gespielt, so lange wie sonst nirgendwo in Österreich. Die Ränge sind so eng in das Wohnviertel eingepasst, dass die Nachbarn vom Balkon oder vom Fenster aus problemlos auf den Rasen schauen können.

Das Stadion hat unterschiedliche Zeitschichtungen, hinter einem Tor etwa steht eine große, halb moderne Sitztribüne, die aber zum Spiel gegen Eisenstadt nicht geöffnet ist. Überwuchert, verbraucht und gesperrt hingegen sind die Stehplatztraversen am Fuße der Balkons mit der guten Sicht. Auch die hölzernen Bänke auf der kleinen Haupttribüne geben den Kampf gegen die Zeit langsam auf, und doch ist es kein morbides Erlebnis, hier zu sein. Denn es gibt ein Leben auf der Friedhofstribüne, die wirklich so heißt, weil auf der anderen Straßenseite der Friedhof Dornbach beginnt und sich den Hang des Schafbergs hinaufzieht. Dort liegt auch einer der ganz Großen des österreichischen Fußball begraben: Ernst Happel.

Auf der Friedhofstribüne stehen die meisten der 1.100 Zuschauer, es wird hier heiterer Laune viel gesungen, gerne auf Englisch. Aber auch die Tradition des Sportklubmarschs gepflegt, zugleich ein Stück schöner Fußballlyrik: „Die Dornbacher Buam san heut wieder in Form, san heut wieder beinand allerhand. Der Tormann ein Jaß, die Verteidigung klaß, Läufer, Stürmer nach vor, noch ein Tor! Heut laß ma rennen wieder unsern Schmäh – und ganz Hernals ist in der Höh’– wir stürmen bei Sonne, bei Regen und Eis für unsere Farben Schwarz-Weiß!“ Dazu schmecken Krügerl leckeren Bieres von der Holzbude, die als „Kantine“ annonciert ist. Angenehm gemischt ist das Publikum, das nicht nur einen studentisch linken Einschlag hat.

Es gibt auch Ältere, darunter eine Nervensäge, die nach jedem Tor, das der einzige blinde Stadionsprecher Europas ansagt, laut herumkrakeelt: „Sportklub vor, noch ein Tor!“ Daneben speicheln Pubertierende die Stufen der Friedhofstribüne mit Spucke ein und werden daran nicht einmal gehindert, obwohl sie provozierend einen Schal des SK Rapid Wien tragen.

So liegt zwar Patina über dem Sportklub, aber der Verein ist nicht von einer Geschichte überwältigt, die ihn mit ihrer Größe im Griff hält. In den Fünfzigerjahren holte der Sportklub drei Meistertitel nach Hernals, es gab 1958 einen legendären 7:0-Sieg über Juventus Turin im Europapokal der Landesmeister und ein Jahr später den Zuschauerrekord gegen die Austria, der seither bei 15.000 Fans steht. Ein Gigant des österreichischen Fußballs ist der Sportklub nicht und musste in den 90er-Jahren von seinen Fans vor dem Untergang gerettet werden.

Seither dominiert eine eher österreichisch entspannt linke Szene den Klub. Man könnte auch von Indie-Rock-Fußball sprechen, denn in der Stadiongaststätte unter der Friedhofstribüne läuft nach dem Spiel Tocotronic.

Doch weil Eisenstadt fünf Dinger gekriegt hat, muss vorher unbedingt noch der Kirchentagsklassiker „Danke!“ angestimmt werden. Also: „Danke für diesen schönen Spieltag, danke für diesen Sportklub-Sieg, danke, dass wir zum Fußball gehen und nicht zu Rapid.“