Ein Rollstuhl-Road-Movie

„Aaltra“ von Benoit Deléphine und Gustave de Kervern

Die Kamera ist auf Augenhöhe, und man sieht einen Tresen, zwei Männer und vier Biergläser. Die beiden trinken, und dann tauchen plötzlich zwei weitere Hände von unten auf, die sich die anderen Gläser greifen und mit diesen wieder aus dem Blickfeld abtauchen. Ich wüsste keine andere Filmeinstellung, die die Situation von Rollstuhlfahrern so lakonisch und eindringlich auf den Punkt bringt. Sie ist auch komisch, aber kaum einer wird im Kino darüber lachen, und man würde sich irritiert nach jenem einzelnen Lacher umsehen, der sich da politisch höchst unkorrekt über eine Behinderung amüsiert. Aber genau mit dieser Verunsicherung des Publikums arbeiten die beiden französischen Filmemacher Benoit Deléphine und Gustave de Kervern in ihrem Film „Aaltra“, in dem sie selber zwei Rollstuhlfahrer spielen, die so boshaft, borniert und eigensüchtig sind, dass man kaum Mitleid mit ihnen aufbringen kann.

Zwei richtige Kotzbrocken sind sie. Verfeindete Nachbarn, die sich gegenseitig schikanieren, bis sie sich aus reiner Blödheit auf einem Traktoranhänger prügeln, wobei sich eine Halterung löst und ein schweres Eisenteil auf sie fällt. Im Krankenhaus sind sie dann Bettnachbarn und streiten weiter. Für immer von der Hüfte abseitig gelähmt werden beide in Rollstühlen nach Hause geschickt, aber sogar ihre missglückten Selbstmordversuche sind so bizarr und unbeholfen, dass sie das Mitgefühl des Publikums nicht wecken. Die Monster sind durch ihre Behinderung nur noch monströser geworden, aber die beiden sind auch keine Witzfiguren, sondern werden statt dessen von den beiden Regisseuren als zwar sehr extreme, aber durchaus realistische Figuren dargestellt, deren Sturheit man langsam zu respektieren beginnt. Deshalb wirkt ihr Film auch nie zynisch, ist ihr Humor zwar makaber, aber nicht kaltherzig.

Und so lacht man dann doch über die zahlreichen Missgeschicke, die den beiden auf ihrer abenteuerlichen Reise aus dem Norden Frankreichs nach Finnland widerfahren. Dort will der Landarbeiter (nein, Namen gönnen ihre Schöpfer den beiden nicht) die Firma „Aaltra“ verklagen , die den umgekippten Traktoranhänger hergestellt hat. Der Angestellte will dagegen zu einem Motocross-Rennen, um dort sein Idol, den Motorrad-Champion Stefan Everts live zu erleben. Doch irgendwie landen die beiden immer auf dem gleichen Bahnsteig, im gleichen Zugabteil, in der gleichen Bredouille, und so reisen sie bald ohne Gepäck und Geld per Anhalter auf einsamen Landstraßen.

Wie in allen guten Roadmovies haben sich die Filmemacher durch die Reise inspirieren lassen. Mit Laiendarstellern in den durchreisten Gegenden Belgiens, den Niederlanden, Deutschlands und schließlich Finnlands haben sie jeweils Situationen improvisiert, die den Film so unvorhersehbar wie das Leben wirken lassen. Eine Familie auf Campingurlaub nerven die beiden dermaßen, dass diese sie bei auflaufender Flut am und dann bald auch im Atlantik stehen lassen; einer alten Frau klauen sie den elektrischen Rollstuhl und einem netten deutschen Ehepaar essen sie den Kühlschrank leer, bis auch diesen erstaunlich geduldigen Mitmenschen der Kragen platzt. Einige Löcher in Dramaturgie und Reiseroute deuten darauf hin, dass diese Methode des Filmemachens unterwegs nicht immer funktionierte, aber auch wenn man sich wundert, wie die beiden schließlich so schnell in Finnland landen, stört dies kaum. Denn am Ende der Reise wartet der finnische Regisseur Aki Kaurismäki mit einem knochentrockenen Gastauftritt und einer Schlusspointe, die auch einem seiner eigenen Filme würdig gewesen wäre: Rollstuhlfahrer aller Länder..... Wilfried Hippen