Abschotten und abwehren

Um sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, hat sich Jens Lehmann, Einser-Torwart des Nationalteams, eine Strategie der Enthaltsamkeit auferlegt

„Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß“

AUS GENF UND BERLINMARKUS VÖLKER

Es war einmal, da hatte es sich der Deutsche Fußball-Bund zur Aufgabe gemacht, seine Auswahlspieler nicht dumm sterben zu lassen. In den Unterkünften lagen Zeitungen aus, bunte und seriöse. Die Spieler konnten darin stöbern und ihre Namen im Sport- oder Gesellschaftsteil suchen. Sie konnten taxieren, wie über sie geschrieben wurde, wie das Auge der Öffentlichkeit auf sie blickte und ob sie womöglich in Ungnade gefallen waren. Die Lektüre konnte Spieler aufbauen – und aus der Bahn werfen. Jürgen Klinsmann hat dafür gesorgt, dass in den Hotels in Genf, Düsseldorf und im Berliner „Schlosshotel im Grunewald“ keine Blätter ausliegen. Die Spieler sollen nicht abgelenkt werden. Jens Lehmann, 36, findet das gut. Er lebt ohnehin enthaltsam. „Im Moment lese ich gar nicht“, sagt der Profi und knetet seine Torhüterpranken. „Ich gucke auch kein Fernsehen.“

Lehmann macht das bewusst, um keine bösen Überraschungen zu erleben wie damals, im Jahr 2001, als er in den Reihen von Borussia Dortmund stand und Christian Nerlinger auf ihn zustürmte: „Haste das gelesen. Das gibt’s ja gar nicht. Das können die doch nicht mit dir machen. Nimm das nicht für bare Münze.“ Lehmann wusste von nichts, las dann die Geschichte über „irgendwas Privates“ und war aufgebracht. Nerlinger wollte seinen Mannschaftskameraden aufbauen, doch er hatte das Gegenteil erreicht.

Lehmann wollte sich künftig nicht mehr überraschen lassen „von diesen Expertenmeinungen“. Er schottete sich ab vom geschriebenen Wort zum Sport. In England ging das viel leichter als in Deutschland. Beim FC Arsenal lebt Lehmann in medialer Abgeschiedenheit, konzentriert sich auf das Wesentliche. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, sagt er, fixiert seinen Gesprächspartner sehr aufmerksam und lächelt. Es sind einfache psychologische Ansätze, die der Einser-Torwart verfolgt: sich abschotten, wenn es sein muss; an die Zukunft denken, wenn ihm in der Vergangenheit ein Patzer unterlaufen ist.

Lehmann spricht so oft von „Fokussieren“ wie andere übers Wetter. Er hat in seiner Karriere so oft in den Tunnel zum Tor und zu der eigenen Befindlichkeit geschaut, dass er im Gespräch eine Aura der Gelöstheit verströmt. Dieser Mann ruht in sich. Seine Konzentrationsarbeit erledigt er rituell, das Ballfangen klappt dadurch einfach besser. Im Spiel gegen Japan am Mittwoch war er der beste Deutsche auf dem Platz. Seine Paraden retteten der Mannschaft ein Unentschieden gegen den keck aufspielenden Asienmeister. Heute will er gegen Kolumbien Tore verhindern (19 Uhr, ZDF).

Jens Lehmann ist dazu verdammt, in diesen und den kommenden Tagen gut zu sein, denn die Abwehr vor ihm ist es nicht. Er wird im Mittelpunkt stehen. Diese Aussicht bringt ihn nicht aus dem Gleichgewicht, in das er sich beim FC Arsenal gebracht hat. Selbst der Fehler, der ihm im Finale der Champions League unterlaufen ist, hat ihm nichts anhaben können. „Wir hatten drei Tage frei. Ich habe bewusst vermieden, darüber nachzudenken. Ich habe mir gesagt: Ich möchte das jetzt nicht.“

Der Verdrängungskünstler hat auch Oliver Kahn beiseite geschoben, mit freundlicher Unterstützung des Bundestrainers. Um Kahn, 36, ist es recht still geworden. Eine Halbzeit durfte er noch im Testspiel gegen Luxemburg ran. Das war’s dann. Nur bei einer Verletzung von Lehmann bekommt er noch eine Chance. Die Nummer zwei darf sich im Training verausgaben, im Spiel kann er dann nur zuschauen, wie Lehmann Posten bezieht – als wichtigster Teil der Viererkette. Lehmann ist kein Torsteher, er ist, wenn man so will, ein Torläufer. Fünf, sechs Kilometer ist er bisweilen in seinem Strafraum unterwegs. Das haben die Statistiker des FC Arsenal zu Saisonbeginn gemessen. Der Keeper wies den gleichen Wert auf wie einer der Feldspieler. „Das kennzeichnet nicht meine Leistung, sondern eher die schlechte Phase, in der wir steckten. Wenn alle gut spielen, komme ich niemals an den Wert eines Feldspielers heran.“ Laufe es schlecht, gönne sich so mancher Feldspieler eine Auszeit. Der Torwart aber kann sich niemals Unkonzentriertheiten leisten. Seine Fehler sind unverzeihlich. Die Medien dramatisieren, die Experten sezieren sie.

Der Torwart spielt im modernen Fußball unter einem Brennspiegel. Das weiß auch Lehmann: „Man schaut auf die Torhüter, weil man da am leichtesten sehen kann, ob Fehler gemacht werden, weil es bei dem komplexen Spiel ja auch für die so genannten Experten schwer geworden ist, zu kapieren, worum es geht.“ Beim Torwart wisse man das immer. Sofort. Lebt er also in einem Raum der Ungerechtigkeit? „Nein“, sagt Lehmann darauf. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wer mich ungerecht behandeln sollte.“ Wie gesagt: Lehmann liest zur Förderung der eigenen Psychohygiene kaum Sportkommentare. „Irgendwann hört man auf, das ernst zu nehmen. Und irgendwann denkt man nicht mehr daran, das überhaupt noch nachzulesen.“

Mit Kahn hat er noch nicht über dessen Zurückstufung gesprochen. Dieses Gespräch wird es auch in den WM-Wochen nicht geben. Die Konkurrenten leben mit ihren Ambitionen aneinander vorbei. „Ich muss mich um andere Dinge kümmern, als mich mit dem anderen Torwart über bestimmte Dinge zu unterhalten“, sagt Lehmann über Kahn, den er vor allem mit seiner offensiven Spielauslegung ausgestochen hat. „Natürlich ist mein Spiel risikoreicher als das Spiel eines Torwarts, der nur auf seiner Linie bleibt“, entgegnet er auf einen Kommentar, in dem ihm attestiert worden war, sein Spiel sei „auf Kante genäht“. Lehmann sagt: „Wenn ich auf der Linie bleiben würde, würde ich nicht in der Nationalmannschaft spielen. Und bei Arsenal auch nicht.“

Der Torwart, der sein gefühltes Alter mit 26 angibt, wird viel Arbeit bekommen, so viel ist sicher. Aber die Hymnen, die auf ihn angestimmt werden, oder die Verrisse, die einem Patzer folgen, wird Lehmann nicht lesen. „Nur die Begeisterung der Leute will ich nicht ausklammern.“