Das Harte und das Flüssige

Das Gesamtkunstwerk wächst, diszipliniert und verschwenderisch: In seinem neuen Film „Drawing Restraint 9“ verwandelt Matthew Barney Walfang und Shinto-Riten in wuchernde Ornamente

Björk trägt einen Kimono aus dichtem Pelz, Barney bekommt Muscheln auf die Stirn geklebt

VON HARALD FRICKE

Wenn Matthew Barney an einem neuen Film arbeitet, beginnt er mit Zeichnungen. Sie sind kaum sechs mal acht Zentimeter groß und erinnern in ihrer anatomischen Genauigkeit an Studien Leonardo da Vincis. Diese Storyboards und Details geben als „Konzeptzeichnungen“ den Rahmen vor, nach dem sich das Produktionsteam vom Maskenbildner bis zum Kameramann richten muss. Mal reicht die Andeutung einer wirr verknoteten Tanzbewegung, mal wird von Barney noch der Faltenwurf einer Halskrause minutiös aufgemalt, als wäre es die Deckenkonstruktion einer Kathedrale.

Nichts bleibt dem Zufall überlassen. In seiner Kontrollwut ist Barney deshalb der akribischen Regie eines George Lucas näher als dem Aktionismus der Performance-Kunst, mit der er so oft in Verbindung gebracht wird. Auch auf diesem Feld war er allerdings sehr konsequent – immerhin sind seine Videos aus den frühen 90er Jahren mit S/M-Spielwiesen und Fitness-Übungen verglichen worden, als postmodernes Mysterien-Theater. Barney schmierte sich Vaseline in alle Körperöffnungen und kletterte nackt an den Wänden umher, nur um am Ende der Strapazen ein Blatt Papier wahllos mit Strichen gespickt zu haben. Zugleich wird in den Exerzitien schon einiges von dem sichtbar, was Barney mit dem Begriff „Drawing Restraint“ meint, um den seit damals seine Arbeit kreist: Kunst entsteht, indem man die eigenen, freischweifenden sexuellen Energien diszipliniert.

Auch für „Drawing Restraint 9“ gab es zunächst ein Konvolut an Zeichnungen. Sie wurden vor zwei Monaten zum amerikanischen Kinostart des gleichnamigen Films in der Barbara Gladstone Gallery gezeigt, mit der Barney in New York zusammenarbeitet. Dort hingen die kleinformatigen Blätter in einem abgeteilten Kabinett, in den restlichen Galerieräumen dominierten überdimensionale Skulpturen: Abgüsse in Epoxydharz und klinisch weißem Prothesenplastik. Alle Objekte sind den Requisiten des Films nachempfunden, von Tauchausrüstungen oder Knochenformationen bis zur komplett abgegossenen Kabineneinrichtung des japanischen Walfangschiffs „Nisshin Maru“. Während die Installation rätselhafte Staffage war – ein bisschen nach Art der weichen Pop-Art-Monstrositäten von Claes Oldenburg –, konnte man auf den Zeichnungen sehr explizite Handlungen sehen. Etwa wie sich zwei menschliche Körper beim Sex umeinander winden; oder ein Mischwesen aus Mann und Wal, dessen gigantischer Penis in eine Frau eindringt.

Auf diese Szene hat Barney verzichtet. Jugendfrei ist „Drawing Restraint 9“ trotzdem nicht, schon wegen der brutal langen Einstellungen, in denen sich ein Paar, gespielt von Barney selbst und seiner Lebenspartnerin Björk, gegenseitig zerstückelt. Beim Publikum dürften sich diese Sequenzen so schockhaft einprägen wie die Albtraumbilder David Cronenbergs. Barney kennt sich mit der Ikonografie des Horrorfilms aus, auch wenn der Film sonst nicht allzu sehr auf Suspense setzt, sondern eher kryptischen Versuchsanordnungen folgt: Wie hängen japanische Walfangtradition und Shinto-Religion, künstlerische Kreativität und soziale Plastik zusammen? Was am Ende nicht minder irritierend wirkt.

Alles an „Drawing Restraint 9“ funktioniert nach einer ausgeklügelten Struktur. Gleich zu Beginn wird ein Päckchen geschnürt, geschickt wickeln die Hände einer Frau die letzte feine Schleife um den Karton. Erst spät sieht man am unteren Rand des Geschenkpapiers das Logo aus dem Atelier von Matthew Barney: die elliptische Form einer Leichtathletiklaufbahn, von einem Balken quer in zwei Hälften getrennt. Ergänzt wird das Markenzeichen durch eine chromglänzende Harpune und eine Messerklinge, schließlich wird der Titel „Drawing Restraint 9“ groß eingeblendet.

Bereits der Vorspann ist eine in sich geschlossene Vignette. In den nächsten 130 Minuten werden ähnlich verschlungene Handlungsabläufe folgen, denen sich „Drawing Restraint 9“ mit dokumentarischer Strenge widmet. Dabei nutzt Barney recht einfache Effekte, um den Betrachter ins Geschehen hineinzuziehen. Extreme Nahsicht, dann ein Sprung zu weitwinkeligen Panoramaaufnahmen, zwischendrin kreist die Kamera kurz schwindelig in der Vogelperspektive, bis sich wie in einem Kaleidoskop die scheinbar nebensächlichsten Motive zu optisch ausgeschmückten Ornamenten verwandeln. Japanerinnen tanzen dekorativ um einen Lkw, der von Ochsen gezogen wird. Taucherinnen suchen in einer vom Atemrhythmus auf der Tonspur festgelegten Choreografie den Meeresgrund nach Perlenaustern ab. Als hätte es die Eingangssequenz vorweggenommen, ist alles, was man sieht, tatsächlich ein Ergebnis der exquisiten Verpackung.

Nach wenigen Einstellungen hat Barney jedes Ding, jede Geste und jedes noch so alltägliche Bild fest im Griff seiner Stilisierungs-Maschinerie. Eine milchige Flüssigkeit wird in ein überdimensionales Bassin auf einem Schiff gepumpt, wo sie auf der Fahrt in die Antarktis zum Beuys-artigen Fettblock erstarrt. Die Besatzung vertreibt sich derweil die Zeit, indem sie Jagd auf einen schwarzen Plastiksack macht, aus dem von Treffer zu Treffer mehr Krabben und Krill herausplatzen. Der Schiffskoch bereitet ihnen unterdessen einen glibberigen Pudding aus kleinen Krebsen zu, von denen sich sonst Wale ernähren. Ohnehin gleicht in „Drawing Restraint 9“ das Leben der Seeleute dem der Meeressäuger, ist das Schiff nur eine Transformation des tierischen Körpers. Selbst das gefüllte Becken ist analog zu einer anatomischen Besonderheit bei manchen Walarten gewählt. So kann etwa der Pottwal das so genannte Walrat in seinem Kopf hart werden lassen, indem er es mit kaltem Wasser durch sein Blasloch abkühlt. Dieser Vorgang macht das Tier schwerer und hilft ihm beim Abtauchen. Will es zurück an die Oberfläche, erwärmt es die feste Masse durch Zirkulation seines Blutes. Wer Barneys Vorliebe für Vaseline kennt, weiß, warum ihn diese Eigentümlichkeit der Wale fasziniert hat. Verhärten und verflüssigen, auf diese Formel lässt sich seine künstlerische Praxis bringen.

Ein zweiter Erzählfaden führt unter Deck. Dort wird man Zeuge einer komplizierten Zeremonie: Als Gäste aus dem Westen sollen Barney und Björk an Bord der „Nisshin Maru“ vermählt werden. Sie wird gebadet, er wird rasiert; sie trägt einen Kimono aus dichtem Pelz, er bekommt Muscheln auf die Stirn geklebt. Minutenlang trinken sie wortlos Tee, verharren in einer skulptural anmutenden Umarmung; danach werden sie einander ebenso ruhig und langsam die Füße abschneiden und das Fleisch von den Schenkeln schälen, während sich die Kabine mit gallertartiger Masse füllt. Dunkel rollen wagnerianische Klangwellen heran, die Björk als Soundtrack auf altertümlichen Flöten und Trommeln komponiert hat; doch das Ziel ist nicht der gemeinsame Liebestod, frei nach „Tristan und Isolde“. Bei Barney geht der Entleibungsakt mit einer weiteren Verwandlung einher: Am Ende schwimmen zwei Wale neben dem Schiff durch das Eismeer.

Bislang hat „Drawing Restraint 9“ vor allem Staunen ausgelöst. Selten ist im Kino Platz für so überbordende Poesie: Die Bilder driften auf surrealem Terrain, scheuen weder den Kitsch einer göttlich umflorten Natur noch den Wink mit der Psychoanalyse – eine Traum-Torte, mit einem Zuckerguss aus Seelenwanderungs-Fantasien und transgressiven Schnörkeln versehen. Nur die Village Voice schrieb gallig von „Cremasturbation“, in Anlehnung an den Zyklus, mit dem Barney international bekannt wurde. Dabei ist der Narzissmus ein bewusst ausgespielter Verweis mehr im Referenzsystem aus Biologie, Mythologie, Oper und Gender Studies. Die Strategie geht auf: Nach seinen Inkarnationen als Satyr, böser Faun oder zuletzt 2005 in „De Lama Lamina“ als brasilianisches Regenwaldgespenst hat Barney nun einen Teil der traditionellen Kultur und Riten Japans „durchlaufen“, wie er es nennt, zu Arabesken umgeformt und barneyfiziert. Das Gesamtkunstwerk wächst weiter, diszipliniert, ausufernd und unerhört verschwenderisch.

„Drawing Restraint 9“, Regie: Matthew Barney. Mit Björk, Matthew Barney u. a. USA/Japan 2005, 135 Min.