Stapelweise blutige Wahrheiten

Seit in Guatemala das Archiv der Nationalpolizei gefunden wurde, erwarten Menschenrechtler neue Erkenntnisse über den Verbleib zehntausender Opfer der Repression. Doch die 60 Millionen Akten sind bedroht: Schon gab es den ersten Anschlag

AUS GUATEMALA-STADT WOLF-DIETER VOGEL

Für den Historiker Edeliberto Cifuentes Medina war es ein Tag, den er nicht mehr vergessen wird. „Vom ersten Moment an wussten wir, dass diese Ansammlung von Dokumenten unschätzbaren Wert hat“, erinnert sich der Mitarbeiter vom Parlament eingerichteten guatemaltekischen Ombudsstelle für Menschenrechte (PDH). Mit jeder Tür habe sich eine neue Fundgrube geöffnet: Berge von Papier, zusammengeschnürt in kleine Stapel, manche vom Schimmel gezeichnet, andere halb zu Staub verfallen. Dokumente aus über 100 Jahren Polizeigeschichte hatten sie gefunden, Akten von 1902 bis heute: Führerscheinanträge, Haftbefehle, Verhörprotokolle, aufbewahrt in einem Gebäude, das inmitten eines Schrottplatzes konfiszierter Fahrzeuge auf einem Polizeigelände in Guatemala-Stadt liegt.

Es ist schon bald ein Jahr her, dass die Menschenrechtler das Archiv der Nationalpolizei und damit die größte Dokumentensammlung dieser Art in Lateinamerika entdeckt haben. Doch seit jenem 5. Juli 2005 spielt der Fund eine zentrale Rolle, wenn es um die Aufarbeitung der Bürgerkriegsgeschichte Guatemalas geht. Denn unter den rund 60 Millionen Akten befinden sich viele aus den Jahren zwischen 1960 und 1996, jener Zeit, in die Guerillabewegung URNG die Regierung gegeneinander kämpften – und die Regierung für einen Völkermord verantwortlich zeichnete. 200.000 Menschen fielen dem Krieg zum Opfer, Morde, Folter und Vergewaltigungen gehörten zur täglichen Praxis von Polizei und Militär.

Viele Familienmitglieder der Opfer setzen nun darauf, dass das Archiv neue Aufschlüsse über den Verbleib ihrer Väter, Mütter oder Kinder bringt. „Außerdem werden wir hoffentlich mehr über die Befehlskette erfahren, darüber, wer für die Morde und Entführungen verantwortlich war“, sagt Larza Hernández von der Angehörigenorganisation Famdegua. Seit 22 Jahren kämpft sie dafür, dass „die intellektuellen und materiellen Täter“ zur Rechenschaft gezogen werden. Ihre Mitstreiterin Marcía Mendez ist besorgt: „Man muss das Archiv gut schützen. Polizei und Armee wollen sicher nicht, dass ihre Beteiligung am Völkermord nachweisbar wird.“ Ihre Angst ist berechtigt. Erst vor drei Wochen, am 10. Mai, hatten Unbekannte versucht, das Archiv mit Molotowcocktails in Brand zu setzen. Am selben Tag wurde auch die Richterin María Ester Roldán von einem Mann, der sich als Polizist bezeichnete, mit dem Tod bedroht. Roldán hatte im letzten Jahr eine historische Entscheidung getroffen: Nach dem Fund ermächtigte ihr Senat die Ombudsstelle, alle Dokumente und Räumlichkeiten im Interesse der Menschenrechtsarbeit zu untersuchen.

Seither arbeiten unter Leitung von Gustavo Meoño rund 80 PDH-Mitarbeiter auf dem Gelände, das zwar formal der Polizei gehört, in dem aber die Menschenrechtsbehörde auf unbestimmte Zeit die Hoheit besitzt. Bisher sind die Studenten, Wissenschaftler und Menschenrechtler vor allem damit beschäftigt, jedes Blatt Papier vom nächsten zu trennen, Passfotos zuzuordnen oder vergilbte Zeitungsausschnitte zu sortieren. Die viele Jahre des Lagerns in Räumen, in denen sonst vor allem Ratten und Fledermäuse zuhause sind, haben Spuren hinterlassen. „Wir sind in der Phase des Säuberns und Konservierens, um die Akten dann zu digitalisieren“, erklärt Direktor Meoño. Langfristig sollen die Dokumente für alle Bürger zugänglich sein. Auf dem Gelände soll, so erhofft sich der PDH-Mitarbeiter, ein Museum entstehen. „Doch vorher wird uns das Archiv helfen zu verstehen, wie es zu den Strukturen der Repression und Kontrolle kam“, sagt er. Bisher habe man zu 95 Prozent auf Aussagen von Betroffenen gebaut, nun lerne man endlich die andere Seite kennen.

Warum aber hat niemand aus dem Apparat dafür gesorgt, dass dieses Eldorado an Beweismaterial gegen folternde Polizisten vernichtet wird? Meoño verwundert das nicht. „Die Verantwortlichen betrachten sich nicht als Verbrecher an den Menschenrechten.“ Im Gegenteil: Sie hätten sich als Verwirklicher ihrer Bestimmung gefühlt, das Vaterland zu retten. „Warum sollte man die Beweise seines Erfolgs, die Quelle seines Stolzes, zerstören?“ so Meoño. Im Übrigen genießen die Täter bislang Straflosigkeit: Fast niemand wurde wegen der Gräueltaten verurteilt.

Entsprechend selbstsicher ging die Nationalpolizei, die nach dem Friedensvertrag von 1996 zur Nationalen Zivilpolizei umstrukturiert wurde, mit ihren Akten um. Polizeisprecher hatten die Existenz eines solchen Archivs zwar regelmäßig geleugnet, zugleich waren jedoch einige Beamtinnen Tag für Tag damit beschäftigt, die Dokumente ihrer Kollegen zu archivieren. Auch an jenem Julitag, an dem Historiker Cifuentes auf das Gelände gekommen war.