Poeta ludens

Ein Spiel ist ein Spiel ist ein Spiel: Ludwig Harig ist einer der größten Kindsköpfe der deutschen Literatur und ein Meister des Fußballsonetts: „O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder!“ Ein Besuch beim Sprachjongleur im saarländischen Sulzbach

Ludwig Harig schaut sich so viele WM-Spiele an wie möglich. Während sie in vollem Gange sind, dichtet er seine Sonette

von OLIVER RUF

Jetzt verlassen wir die Fernstraße und fahren durchs Tal. Nordöstlich von Saarbrücken. Gesprengte Westwallbunker und ein „brennender Berg“. In seinem Innern schwelt seit 300 Jahren ein in Brand geratenes Kohleflöz. Im Schwefelgeruch wärmt der Dunst die Steine, „noch immer dämpft der Wald die schroffe Klamm“. Am Fuße das Städtchen: Sulzbach/Saar, 20.000 Einwohner. Hinter dem Ortseingang die Oberdorfstraße. An deren Ende ein beschaulicher Bau. Der Gastgeber öffnet: Willkommen in einem poetischen Haus!

Zu Ludwig Harig kommen wir, dem Sprachjongleur. Als Volksschullehrer lernte dieser in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Max Bense kennen, den Rechenmeister der Poesie, der seinem Schüler später zugesteht, in seiner experimentellen Schreibweise „nie im ästhetischen Engagement“ stecken zu bleiben; Harig schloss sich der so genannten Stuttgarter Schule an, zu der unter anderem auch Helmut Heißenbüttel, Arno Schmitt, Franz Mon, Reinhard Döhl und Eugen Gomringer gehörten – einflussreiche Exponenten ludischer Literatur nach 1945. In deren Umfeld verfasste Harig leidenschaftlich ebenso konkrete wie experimentelle Texte, Lyrik, „Neue“ Hörspiele (darunter das skandalträchtige „Staatsbegräbnis“ von 1962) und, dem Schuldienst entlaufen, unvergessliche Bücher wie die „Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung“ von 1971 oder die „Allseitige Beschreibung der Welt zur Heimkehr des Menschen in eine schönere Zukunft“ von 1974.

Es gibt keinen Tag im Leben Ludwig Harigs ohne literarische Durchforstung der Welt. Das hält ihn jung. „Das gibt mir Halt!“ In seinem Wohnzimmer springt der 79-Jährige denn auch rasant aus dem Filzstuhl. Eilt zu einem der voll gestellten Bücherregale, die ihm allesamt weit über den Kopf ragen. Zurück am Tisch liest er vor. Schweift aus. „Nein, geben Sie mir bitte ein Blatt Papier.“ Dann schreibt er Zahlen darauf. Und demonstriert seine Spezialität: Permutationen! Aber nicht mit Zahlen, sondern mit Sätzen. Sprachspiele! Sprachexperimente! Das Laboratorium ist hier, in seinem Sulzbacher Haus.

„Schon als kleiner Junge habe ich mich stark mit der Geheimnissen der Poesie auseinander gesetzt!“, sagt Harig. Seine Großmutter nannte ihn damals einen „Luftkutscher“; ein „Kindskopf“ ist er immer geblieben. Aus Carola Giedion-Welckers „Anthologie der Abseitigen“ lernte er die historische Avantgarde kennen: „Da tanzten die Zeichen, lachte und feixte das Papier.“ Bense nahm später ohne Zögern Harigs „Wortfuge in Blau“ und dessen anakuluthischen Text „verwandlungen“ in seine Zeitschrift „augenblick“ auf. „Mein Spieltrieb“, sagt Harig, „war ununterdrückbar.“ Jedes freie Wochenende verbrachte er seinerzeit in Stuttgart; auch während der Ferien war diese Gruppe beisammen, in der Provence, beim Grillen in der Heide. Es wurde viel diskutiert, viel geredet. Das wirkte auf Harigs Texte. Allmählich wurde er erzählerisch.

1978, bei „Rousseau. Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn“ angelangt, hat er sich schließlich den engen Grenzen experimentellen Schreibens ab- und sich der Freiheit „geordneten“ Erzählens zugewandt. Er verfasste drei autobiografische Romane, mit denen er bekannt geworden ist, „Ordnung ist das ganze Leben“ (1986), „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ (1990) und „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“ (1996), imposante narrative Werke, die das deutsche 20. Jahrhundert hinsichtlich der großen Fragen nach Schuld und Verantwortung im Kleinen besichtigen: wahre und wichtige Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind, unspektakulär, aber bewegend.

„Ludwig, sei nicht so narrativ!“, riet ihm Bense bereits Mitte der Siebzigerjahre. „Doch das war nicht mehr abzuwenden“, sagt Harig heute. „Dabei habe ich doch nur die mathematischen Formeln mit erzählerischen verbunden.“ Und in der Tat: Seine autobiografische Literatur ist nur auf den ersten Blick konventionell; Harigs Herkunft, im ganz wörtlichen Sinn, scheint stets durch jedes Buch: Weiterhin sind es Permutationen, Anakoluthe, Wortspiele, Collagen, die den Gang der Erzählung aufbrechen; Erinnerung und Fiktion, Fantasie und Realität werden miteinander verwebt. Harig hat dieses Verfahren bereits 1983 in den „Trierer Spaziergängen“ demonstriert, bei denen er römische Historie über die Bilder der Gegenwart blendet. Er hat, als ihre Rosen noch im Verborgenen blühten, Gertrude Stein gelesen, hat Raymond Queneau übersetzt, sich durch Jean Paul hindurch vergnügt und jeweils seinen Anteil einbehalten: Aus dem Proviant seiner frühen literarischen Prägung hat er sich über die Jahre eine eiserne Ration bewahrt. Das erleben wir an diesem Donnerstagmorgen zum Junibeginn eindrucksvoll. „Ich habe gerade meinen neuen Roman beendet“, sagt Harig. „Und der steht hier.“ Er weist in die Ecke, neben dem Esstisch, wo sich vier Pappkartons übereinander stapeln. Sie sind mit grünen Dinosauriern, blauen Elefanten und vielen anderen bunten Tieren in kräftigen Farben bemalt. „Ich habe zu lang in meinem Leben Märchen gelesen“, kommentiert Harig, nicht ohne Stolz. Die unterste Kiste beinhaltet Kartenmaterial, Stadtpläne, Dokumente; es folgen Entwürfe und 1. Fassungen, Materialien und die „Handschrift“ im obersten Karton.

Harig öffnet ihn gerne, nimmt einen Packen Blätter heraus, die ein Gummiband zusammen hält. Auf den einzelnen Bögen sind zahlreiche Schnipsel und Zettelchen, handschriftliche Notizen, vergilbte Papierfetzen zusammengeklebt, gepuzzelt, collagiert. Fortlaufend ergibt das einen kompletten Roman. Er handelt von einem alten Freund. Ludwig Harig lernte Roland Caszet 1949 kennen, als er als Assistant d’allemand am Collège Moderne in Lyon tätig war. Daraus wurden einen lebenslange Freundschaft und nun auch ein Buch, das dieses Leben, „so üppig von Abenteuern“, „gesättigt von Auf- und Niedergängen“, beschreibt.

Jeden Vormittag, von halb sieben bis halb eins, arbeitet Harig. Konsequent. Hinter der Bücherwand, die den Ess- vom Arbeitsbereich trennt, steht sein Schreibtisch. Auf ihm liegen – kaum verwunderlich – Unmengen Papierschnitzel, auch Papiertaschentücher, die Harig mit Einfällen und Fortschreibungen beschrieben hat. Daneben, mit einem eigens geschreinerten Holzmöbel erhöht: die Schreibmaschine, seine geliebte „Carina“, die er zum „zärtlichen Tastenspiel berührt“. Auf ihr tippt er selbst jedes einzelne seiner Manuskripte, stehend, in bester Goethe-Manier. Der bereiste einst den „brennenden Berg“ über Sulzbach, den man von Harigs Wohnzimmerfenster aus sehen kann und wo derselbe des Öfteren am Nachmittag mit seiner Frau spazieren geht. Goethe hat den Hügel in „Dichtung und Wahrheit“ beschrieben: „die eine Seite der Hohle war nahezu glühend, mit röthlichem, weißgebranntem Stein bedeckt“. Mit einem Griff findet Harig Goethes Buch im Regal. Schlägt gleich die richtige Seite auf. Gibt es zu lesen, damit wir beschäftigt sind, solange er seiner Frau beim Verstauen der Einkäufe hilft.

Ludwig Harig, der Spieler, ist ein höflicher und ein fröhlicher Mensch. Und so prägt sein Schreiben diese „makellose Mischung aus Genauigkeit und Gelassenheit“ (Marcel Reich-Ranicki), die von den frühen experimentellen Texten über die weiträumige Prosa bis heute in Harigs Oeuvre anzutreffen ist. Eine leichthändige und doch präzise betriebene Literatur. Unweigerlich finden solche spielerischen Momente als thematische Segmente in Harigs Dichtung Eingang; sie spiegeln sich zwangsläufig in gängigen literarischen Topoi: Harig vermag es meisterhaft, humoristisch einfühlsame Fußballsonette zu dichten, die während und für die Welt- und Europameisterschaften der vergangenen Jahre und auch für Champions-League- und Freundschaftsspiele entstanden sind und die ein herrlich haptischer, in grünem Samt gebundener neuer Band versammelt: „O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder! / Der fußerzeugten Kunst begleicht und opfert jeder / Tribut und Obulus im hirnverzückten Schrei.“

Fußball ist Harigs liebstes Hobby. Schnell kommt er darauf zu sprechen. Als Heranwachsender war er jeden Sonntag auf dem Sportplatz zu finden, in Saarbrücken, Kaiserslautern oder Worms. Das Sonett ergründete er dabei als „ideale Form“, das Leben poetisch zu fassen – „und gerade der Fußball ist ja ein Abbild des Lebens oder besser: Das Leben ist nur ein Abbild des Fußballs“, sagt zumindest Ludwig Harig. Jedes Spiel der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft hat er sich deshalb in seinen Terminkalender eingetragen. Die wenigsten Spiele will er verpassen. Wenn er sich die im Fernseher anschaut, liegen stets Zettel und Stift parat. Auch diesmal will er parallel, während das Spiel in vollem Gange ist, Fußballsonette dichten.

Harig ist nicht allein in der Fußballpoesie, sondern in jeder Hinsicht weltläufig geworden. Zwei Bände einer auf zehn Bände angelegten Werkausgabe sind bereits erschienen, der nächste Band erscheint in diesem Herbst. Doch gerade darin ist er provinziell geblieben: Harig betreibt Geschichtsbetrachtung von der Peripherie, er blickt den Saarländern mitten ins Herz (zum Beispiel mit der „Saarländischen Freude. Ein Lesebuch über die gute Art zu leben und zu denken“ von 1978). Einen Nebeneffekt hat dieser Umstand: Je energischer er redet, umso schneller verfällt er in den Dialekt. Er schreibt: „Weil aber das Luftreisen von Tag zu Tag gefährlicher wird und wir sowieso nur reisen, um wieder heimzukehren, bleiben wir, auch meiner verstiegenen Kopfreisen wegen, lieber mit den Füßen auf dem Boden.“

Und dieser Boden ist bisweilen eben auch ein Rasen; das sprachspielerische Moment spiegelt sich bei Harig im Königsspiel, dem Fußball, der „nicht die schönste Nebensache der Welt“ ist, sondern „Haupt- und Staatsaktion“, was er sowohl als konkrete Poesie (etwa im großartigen Poem „herumgezogen flanken lauf“) als auch wiederum als Fußballsonett zu zeigen vermag: „Was einst in Bern geschah, es klingt wie eine Fabel. / Geheimer Doppelsinn, die Kunst im reinen Zweckball, / entschied den Spielverlauf; der einstudierte Eckball / verwirrte Ungarns Elf mit kryptischer Parabel.“ Das Leben als Spiel und im Spiel, das Wörterspiel – bei Harig immer auch ein Lebensspiel.

Ludwig Harig: „Die Wahrheit ist auf dem Platz. Fußballsonette“. Hanser Verlag, München 2006. 76 S., 12,50 €ĽLudwig Harig: „Gesammelte Werke“. Hrsg. von Werner Jung, Benno Rech und Gerhard Sauder. Hanser Verlag, München 2004 ff., bislang drei Bände