„Unter einem helleren Himmel“

Weltzustände, Lebensgefühle: Ein Gespräch mit Peter Sloterdijk über die Verwirrung als Produktivkraft, die verdichtete Welt des „Kapitalinnenraums“, seine prägenden Jahre als Bhagwan-Jünger in Poona und was Linke und Banken gemeinsam haben

INTERVIEW ROBERT MISIK

taz: In einer Rede über die 68er haben Sie einmal gesagt: „Man musste mehr Verwirrung wagen, um mehr Demokratie zu bekommen.“ Ist die Verwirrung eine Produktivkraft?

Peter Sloterdijk: Sicher. Alle wesentlichen Aufbruchsbewegungen seit mehr als 200 Jahren haben etwas mit produktiver Verwirrung zu tun. Immer, wenn es vorwärts geht, ist zunächst die Semantik trübe. Wir leben heute in interessanten Zeiten, weil sich die historische Semantik der Linken und der Rechten, die uns seit 200 Jahren Orientierungsdienste leistete, in eine gewisse Konfusion auflöst.

Wenn die Verwirrung produktiv ist, heißt das dann nicht auch, dass die Systematik unproduktiv ist?

Nicht in jeder Hinsicht. Doch Sie haben Recht: Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.

Der Theoretiker ist immer auch ein Weltaufräumer. In Ihrem letzten Buch haben Sie eine neue Theorie der Globalisierung präsentiert – deren Kennzeichen sei nicht Beschleunigung, sondern Verdichtung. Was hat es mit der Dichte auf sich?

Da muss ich schon wieder an den Kollegen Hegel erinnern – und auf dessen Begriff „Weltzustand“ verweisen. Weltzustände haben etwas mit der Wahrnehmung von Epochenbrüchen zu tun. Nehmen wir die Zeit 1492 bis 1900 – von der Entdeckung Amerikas bis zum Abschluss der kolonialen Aufteilung der Welt. Europa produzierte bis 1900 eine Menschenüberproduktion für die Expansion. Bis dahin erlebten die Europäer die Welt als einen undichten Raum. Doch danach ist die Welt besetzt. Man kann nun nur mehr gegeneinander expandieren. Das Zeitalter der Weltkriege ist das erste Monument dieser Verdichtung.

Das verändert die Menschen?

Es stellen sich die Lebensgefühle um. Die heutigen Europäer haben weitgehend begriffen, dass in einer dichten Welt der gesamte expansionistische, heroische, auf Eroberungen ausgerichtete Habitus nicht mehr operativ ist. Dadurch entsteht der vorsichtigere, berechnendere, höflichere, zivilisiertere Menschentypus.

Globalisierung ist also Stau?

Wo immer man hinkommt, man hat einen Vordermann. Der Entdecker ist derjenige, der als Erster ankommt. Seine Epoche endete mit dem Polarfieber, an dem waren übrigens sogar die Österreicher beteiligt – was in der Eroberung von Franz-Josephs-Land gipfelte.

Als die koloniale Expansion an ihr Ende kam, hat man Eisschollen besetzt?

Das zeigt, wie wichtig es damals war, irgendwo als Erster zu sein – und wenn es nur eine Insel voller Gletscher war.

Ist der zeitgenössische Heros nicht der Unternehmer, der Märkte erobert?

Während die Welt als Ganzes sich eher umstellt auf den Typus des Kooperateurs, bleibt der Unternehmer weiter auf Eroberung und Expansion orientiert. So werden Ersatzkontinente für Expansion geschaffen. Deshalb der ungeheure Ansturm auf die Kapitalmärkte – sie sind die heutigen Kolonien und Franz-Josephs-Länder. In der Realwirtschaft ist der Raum schon dicht, dort ist das Gesetz der gegenseitigen Behinderung längst voll entfaltet. Nur auf den Kapitalmärkten geht der imperiale, expansive Gestus noch in die Verlängerung.

Diese Welt nennen Sie in Ihrem letzten Buch den „Weltinnenraum des Kapitals“.

Die Menschen leben im Kapitalismus unter Bedingungen, die dem Aufenthalt in einem Treibhaus gleichkommen. Umso spontaner regt sich das Postulat, es müsse noch ein Außen geben. Interessant daran ist, dass man sich dieses Außen doch wieder wie ein anderes Innen ausmalt, wo man unter angenehmen Bedingungen abenteuerliche Erfahrungen machen kann.

Erlebnisse müssen konsumierbar bleiben?

Sie sollen auf das Konto der eigenen Persönlichkeit einbezahlt werden. Diese will sich bereichern, nicht Traumatisierungen sammeln.

Zum Weltinnenraum, darauf insistieren Sie geradezu, gibt es aber auch einen Weltaußenraum. Das ist Ihre Antwort auf Toni Negri und Michael Hardt, die in ihrem Buch „Empire“ von einem kapitalistischen Orbit ohne Zentrum, aber auch ohne Außen ausgehen. Was ist denn das für ein Außen, von dem Sie sprechen?

Negri hat ein strategisches Interesse daran, auch die Armutswelten und die Nicht-Komfortzonen für das Empire zu reklamieren, weil er dort die Rekruten seiner Multitude findet, also die Leute, die dagegen sind, die Revolutionäre von morgen.

die findet er drinnen auch.

Der Traum vom Zusammenschluss der inneren mit der äußeren Opposition ist die Fortsetzung des Traums von der kommunistischen Sammlung. Das ist ein Gedanke, dem ich ein in Kürze erscheinendes neues Buch gewidmet habe – unter dem Titel „Zorn und Zeit“. Ich zeige da, wie die klassische Linke als Zornbank funktioniert hat, bei der all diejenigen ihren Zorn deponieren konnten, die wussten, dass ohnmächtige Wut nicht genügt. Es braucht Zornbankhäuser in Gestalt linker Parteien, um die Wut der Benachteiligten politisch operational zu machen. Und deswegen funktioniert das Prinzip Links heute nicht mehr, weil die Linke sich selber eher als Teil des Wohlfühlsystems verhält, nicht als Agentur für die Sammlung und Verwandlung von Zorn.

Was genau ist denn der Grund für diesen Zorn?

Das Versprechen des Wohlfahrtsstaats lautete: Arbeitslosigkeit bedeutet nicht Armut, sondern schlimmstenfalls das Absinken in ein Kleinbürgertum, unter zwar traurigen, aber nicht elenden Bedingungen. Seit klar ist, dass diese Garantie nicht mehr zu halten ist, wächst die Spannung. Doch fürs Erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen.

Ein Reflex auf die Globalisierung ist auch der Partikularismus. Ist die Resistenz des Lokalen die Gegenwahrheit zur Globalisierung?

Das trifft zumindest für Orte zu, die nicht völlig verwüstet werden, nicht völlig zu Transiträumen, Orten ohne Selbst werden – wie die Flughäfen, Hotels etc. Ich unterscheide zwischen Orten ohne Selbst, den Transitwüsten – und dem Selbst ohne Ort, also den deterritorialisierten Gruppen, die man gern die Nomaden nennt. Dazwischen liegen die Mittelzonen, wo Ort und Selbst durch eine gemeinsame Kultivierung verbunden sind. Das kann man in Mittel- und Westeuropa noch sehr eindrucksvoll erleben – angenehme, zivilisierte Gemeinwesen, wo eine Lebenskunst zu Hause ist. Übrigens können auch im Bereich des Transitlebens erstaunliche Kultivierungsleistungen entstehen, vor allem in den gehobenen internationalen Hotelketten – wo für Menschen, die zu viel unterwegs sind, ziemlich lebenswerte Luxusoasen eröffnet wurden.

Kennen Sie Menschen, die an solchen Orten glücklich sind?

Nun ja, das Glück ist eine flüchtige Größe – Freud suggerierte sogar, es sei für den Homo Sapiens von der Evolution nicht vorgesehen. Der Mensch muss schon froh sein, wenn er in gewöhnlichem Unglück residiert, statt im neurotischen Elend.

Sie haben einmal anlässlich Ihres Streits mit der Frankfurter Schule angemerkt, es handele sich vor allem um einen Gegensatz der Stimmungen. Während man bei der Kritischen Theorie immer die Bereitschaft mitbringen muss, sich deprimieren zu lassen, sind Sie doch eher ein Denker des Fröhlichen. Wie können Sie da sagen, der Mensch ist für's Unglück bestimmt?

Die Kritische Theorie war einmal meine theoretische Heimat. Sie war durch die Erfahrung mit dem Holocaust geprägt, durch die Universal-Entmenschlichung. Diese lieferte die generationsprägende Erfahrung der ersten Jahrhunderthälfte. Im Übrigen war die Stimmung des französischen Existenzialismus auch nicht viel heller. Die Jahre nach 1968 haben dann einen Test darauf gemacht, wie weit solche Beschreibungen noch taugen – nicht wirklich, wie sich zeigte. Unsere veränderten Erfahrungen mussten sich irgendwann in einen neuen Habitus übersetzen. Deshalb trat die Nach-68er-Linke als hedonistische Linke auf. Man war sich sicher, dass man durch die eigene Libidoentfesselung das Glück der Menschheit herbeiführt.

Sie waren Ende der Siebzigerjahre Sanjassin, lebten eine Zeit lang bei Bhagwan in Poona.

Das Indienabenteuer war bei mir ein Ausfluss dieser Siebzigerjahrestimmung. Und hinzu kam die Überzeugung, dass ein rein materialistischer Revolutionsbegriff unzureichend ist. Man wollte damals Basis und Überbau umkehren und den mentalen Faktor ins Zentrum stellen.

Es gibt so Metaphern für Prägungen. Manche sagen: Einmal Trotzkist, immer Trotzkist. Kann man auch sagen: Einmal Sanjassin, immer Sanjassin?

Im Grunde ja. Die Umstimmungserfahrung von damals bleibt irreversibel. Wer sie gemacht hat, wird unempfänglich für Theorien, in denen die Depression immer Recht hat. Auch will man den Wettbewerb, wer der Unglücklichste ist, nicht mehr um jeden Preis gewinnen. Man lebt unter einem helleren Himmel. Was mich betrifft: Indien ist völlig in den Hintergrund getreten, aber die damals erlebte Umstimmung wirkt immer noch nach.