Gefahr der Freiheit

Immer mehr Chinesen sind bereit, offen ihre Meinung zu sagen. Dies hat Folgen

AUS PEKING GEORG BLUME

Es war ein Anruf, wie ihn jeder gute Auslandskorrespondent in China fürchten muss. Er erreichte das ARD-Studio in Peking am letzten Donnerstag. Es meldete sich eine chinesische Stimme aus der tiefen Provinz. Sie gehörte dem Freund eines Bürgeraktivisten aus dem Dorf Yangguidian unweit des Drei-Schluchten-Staudamms am Yangtse-Fluss. Der Aktivist Fu Xiancai hatte der ARD einige Wochen zuvor ein Interview gegeben. Er hatte sich beklagt, dass versprochene Entschädigungszahlungen für die Umsiedlung aufgrund des Dammbaus nie in voller Höhe gezahlt wurden.

Nun aber teilte sein Freund dem ARD-Studio mit, dass Fu Xiancai für seine Aussagen im deutschen Fernsehen von einer Meute überfallen und zusammengeschlagen worden sei. Er hätte dabei lebensgefährliche Verletzungen im Halswirbelbereich erlitten und sei vom Hals abwärts gelähmt. Zuvor hätte ihn die lokale Verwaltung im Dorf als „Verräter“ hingestellt. Fu schwebe in Lebensgefahr, berichtete sein Freund aus Yangguidian.

Die ARD-Leute in Peking waren über den Anruf entsetzt und bestürzt. Für Studioleiter Jochen Gräbert gab es in den letzten Tagen nur noch einen Gedanken: „Wie kann man dem Mann helfen?“, fragte er sich und kam zu dem Schluss: nur durch internationale Öffentlichkeit. Gräbert schlug bei Chefredaktion und Intendanz des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg Alarm. Und NDR-Intendant Jobst Plog reagierte. Am Montag schrieb Plog einen Brief an den chinesischen Botschafter in Berlin, in dem er diesen auffordert, „alles in seinen Kräften Stehende zu veranlassen, dass dem schwer verletzten Fu Xiancai jede notwendige medizinische Versorgung zuteil wird“. Und mehr noch. Plog verlangt von Botschafter Ma Camrong, seinen Einfluss geltend zu machen, „dass chinesische Staatsbürger künftig nicht um Leben und Gesundheit fürchten müssen, nur weil sie sich ganz sachlich im Deutschen Fernsehen äußern“.

Ob das hilft? Abwarten. Gelegentlich macht sich das Pekinger Außenministerium durchaus für ausländische Reporter stark, die sich auf Provinzreisen mit den Lokalbehörden überwerfen. Doch gilt dann die Hilfe eher dem ausländischer Reporter als dem chinesischen Interviewpartner und ist in der Regel präventiv angelegt, um Schaden zu verhindern. Sie gleicht nicht einem Schuldbekenntnis. Im Fall Fu Xiancais aber ist der Schaden bereits eingetreten. Da wäre es höchst erstaunlich, wenn Peking im Sinne einer Schuldbekenntnis noch eingriffe. Tatsächlich stehen die Chancen, Fu über öffentlichen Druck von außen zu helfen, denkbar schlecht.

Das weiß auch die ARD. „Ein bitterer Fall“, sagt Gräbert. Es hat ihn nicht direkt getroffen. Seine Urlaubsvertretung zeichnete für den Beitrag über Fu verantwortlich. Aber es hätte ihm und jedem anderen Auslandskorrespondenten in China genauso passieren können. Ständig sprechen westliche Reporter mit Chinesen, die ihre Kritik über die eigene Regierung äußern. So frei ist das Land heute, dass die Leute sehr oft direkt und schonungslos ihre Meinung sagen. Chinesische Medien habe ihren eigenen, oft taktischen und stets parteizensierten Umgang mit dieser Realität. Wie aber hält es der ausländische Reporter damit? Darf er rücksichtslos schreiben oder senden, was ihm die Leute sagen? Gräbert spricht von einer ständigen Abwägung. Zahllose Interviews habe er schon abgesagt, weil er die Auskunftsbereiten nicht in Gefahr bringen wollte. Andererseits glaubt er, dass man bewusst agierenden Aktivisten wie Fu nicht den Zugang zur internationalen Öffentlichkeit verwehren könne.

Erst im Dezember war Gräbert mit seinem Fernsehteam in einem von vergifteten Industrieabwässern geplagten Bauerndorf in der Provinz Henan unterwegs. Er filmte den Umweltaktivisten Huo Daishan, wie er den Bauern des Dorfes zur Seite stand, die aufgrund der lokalen Grundwasserverschmutzung an Krebs erkrankt waren. Huo wurde nach dem ARD-Besuch nicht Opfer von Verfolgungen. Stattdessen half die internationale Berichterstattung den Fall des Henaner Krebsdorfes innerhalb Chinas bekannt zu machen, und Huo bekommt seither auch Unterstützung von chinesischen Medien. So kann der investigative Journalismus von Auslandskorrespondenten in China gut – oder schlecht wie im Fall Fu Xiancais enden.